Am vergangenen Freitag hatten sich Wissenschaftler*innen mit dem neuen BILD-Chefredakteur Johannes Boie zu einem „Dialog zur Rolle des Boulevardjournalismus in Zeiten der Pandemie“ verabredet. Anlass: Die Zeitung hatte Anfang Dezember Wissenschaftler*innen als „Lockdown-Macher“ auf dem Titel an den Pranger gestellt. Die Diskussion verlief erstaunlich zahm und war sehr schnell auf Kooperation ausgerichtet. Doch wie kann eine Zusammenarbeit überhaupt denkbar sein, wenn BILD bleibt, was BILD ist? Und wie eng sollten Wissenschaft und Medien überhaupt „kooperieren“?

Wissenschaft zu Besuch bei Springer in Berlin

Auf dem Podium bei Axel-Springer in Berlin saßen als Vertreter der Wissenschaftsorganisationen Otmar Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, und Michael Hallek vom Uniklinikum Köln, Mitglied des Wissenschaftsrats. Die Seite der Wissenschaft komplettierten zwei der drei Wissenschaftler*innen, die in die Schlagzeilen der BILD geraten waren: Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, und Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. 

Proteste gegen die Berichterstattung

Vorangegangen war dem Gespräch im Springer-Verlag eine öffentliche Stellungnahme aller großen deutschen Wissenschaftsorganisationen direkt nach der Veröffentlichung des Aufmachers im vergangenen Dezember. Darin wurde die Vorgehensweise der BILD deutlich verurteilt. Die Autor*innen verwiesen darauf, dass BILD zu einem Meinungsklima beitrage, das an anderer Stelle bereits zu Gewalt oder Gewaltdrohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geführt habe. Darüber hinaus hatte der Presserat 84 Beschwerden aus dem wissenschaftlichen Umfeld erhalten und prüft derzeit noch die Einleitung eines Verfahrens.

Diskussion im Vorfeld des Gesprächs

Laut einem Statement des Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, war der Impuls für den Austausch von den drei beteiligten Wissenschaftsorganisationen ausgegangen. Bereits im Vorfeld des Gesprächs gab es in den Sozialen Medien eine Diskussion darüber, ob ein öffentliches Gespräch der Wissenschaft mit der BILD im Hause Springer eine gute Idee wäre oder nur dem angeschlagenen Image der Zeitung zu Gute kommen würde. Irritierend war in der Tat, dass die Veranstaltung als Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe der BILD daherkam („Hinter den Schlagzeilen – mit BILD im Gespräch“), sowohl Boie als auch Wiestler aber betonten, es handele sich um eine gemeinsame Veranstaltung der Wissenschaftsorganisationen und von BILD. Nachzulesen ist die vorangegangene Debatte bei wissenschaftskommunikation.de.

Eine vorsichtige Annäherung

Am Freitag dann diskutierten die Beteiligten insgesamt vorsichtig und respektvoll miteinander, ganz offensichtlich darauf bedacht, sich gegenseitig nicht zu sehr der Kritik auszusetzen. Am deutlichsten wurde wohl noch die Moderatorin, die freie Hörfunkjournalistin Blanka Weber, die von einem „Scherbenhaufen“ sprach, den der Bericht im Dezember hinterlassen habe. Sie machte klar, man habe Grenzen überschritten, wenn Berichte dazu führten, dass Wissenschafler*innen nach deren Veröffentlichung Personenschutz benötigten. 

Lieber nicht grundsätzlich werden

In den Eingangsstatements wiederholten Otmar Wiestler und Michael Hallek die Kritik aus der Stellungnahme des vergangenen Jahres, ebenso meldete sich Michael Meyer-Hermann als Betroffener zu Wort. Viola Priesemann hatte schon vorher angekündigt, nicht mehr zurückschauen zu wollen, und kritisierte allgemein die Boulevard-Berichterstattung mit ihrer Konzentration auf das Extreme. Sie hob hervor, welch übergreifende Wirkung die persönlichen Angriffe auf andere Wissenschaftler*innen hätten, die dann lieber gar nicht mehr kommunizieren würden.

Die eigentlichen Vorwürfe in Richtung BILD konzentrierten sich vorrangig auf die Berichterstattung rund um den Aufmacher „Lockdown-Macher“. Boie räumte ein, dass Fehler gemacht worden seien. Eine öffentliche Bitte um Entschuldigung in Richtung von Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann blieb aus. Meyer-Hermann machte noch einmal deutlich, warum er als Wissenschaftler Probleme mit der gesamten Art der Berichterstattung habe und sich deshalb für Interviews auch nicht mehr zur Verfügung stelle. Er brachte dann gleich einen konstruktiven Vorschlag ein, noch ehe die eigentlichen Vorwürfe gegen das System BILD überhaupt ausführlich zur Sprache kommen konnten: Der Physiker stellte sich eine Seite in der Zeitung vor, auf der Wissenschaftler*innen ihre „Fakten neutral vorstellen könnten“. Boie konnte da nicht mitgehen. „Boulevard bleibt Boulevard“ betonte er, und die Inhalte der Wissenschaft müssten ja auch journalistisch kritisch beurteilt werden. Der Einwurf ist natürlich gerechtfertigt, wenn es dann wirklich um eine journalistische Einordnung geht.

Am Ende der gesamten Diskussion stellte Helmholtz-Präsident Wiestler in Aussicht, weiter im Dialog bleiben zu wollen, sogar von möglichen Kooperationen war da die Rede:

„Wenn wir im Nachgang an die Veranstaltung jetzt noch das eine oder andere gemeinsame Projekt definieren, wäre ich mit diesem Dialog sehr zufrieden.“

Otmar Wiestler, Präsident Helmholtz-Gemeinschaft

Ein schnelles Einlenken – in einem Stadium, in dem grundsätzliche Fragen noch nicht einmal angesprochen, geschweige denn geklärt gewesen wären. Vielleicht war allen Beteiligten klar, dass eine grundsätzliche Übereinkunft wohl unmöglich gewesen wäre, hätte man tiefer gebohrt?

In welchem Umfeld sind Kooperationen denkbar?

Wenig Tiefe, wenig Nachhaken – konnte man denn anderes erwarten von so einer öffentlichen Diskussion? Ich denke ja. Dafür allerdings hätte man den verantwortlichen BILD-Chefredakteur stärker herausfordern und grundsätzlicher diskutieren müssen. Man kann ja nicht darüber hinwegsehen, dass zum Beispiel eine Kooperation in Form einer gemeinsamen Wissenschaftsseite nicht voraussetzungsfrei sein darf. Das Umfeld kann da nicht außer Acht bleiben.

Wie sich dieses Umfeld bislang gestaltet, ist bekannt. Die BILD erhielt vom Presserat seit der Gründung des Organs der Freiwilligen Selbstkontrolle die mit Abstand meisten Rügen aller Medien (siehe Statista). Von einer Darstellung der Beschwerden im Blatt hat man bei BILD inzwischen abgesehen, obwohl die Zeitung sich einmal dazu bekannt hat, wie bei Übermedien kürzlich zu lesen war – das scheint auch unter dem neuen Chefredakteur Boie noch Usus zu sein. Würden die Wissenschaftsorganisationen auch dann mit der BILD kooperieren, wenn sie ihre gängige Art dieser „Berichterstattung“ fortsetzte, Persönlichkeitsrechte also weiterhin verletzen würde, die Menschenwürde ignorierte und es mit der Wahrhaftigkeit auch in Zukunft nicht so genau nähme? All das sind Vergehen, für die das Medium noch im vergangenen Jahr vom Presserat immer wieder gerügt worden ist.

Braucht die Wissenschaft die BILD Zeitung?

In der Diskussion kam diese Frage nicht auf, so weit brachte man den Gastgeber nicht in Bedrängnis, obwohl es doch zu naheliegend war, hier noch einmal das gesamte System BILD in Frage zu stellen. Wiestler vertrat die Position, dass die Wissenschaft auf Boulevard-Journalismus angewiesen sei, um Menschen zu erreichen, zu denen Wissenschaft keinen Zugang habe. Ob damit die BILD gemeint sein kann, die wir aktuell kennen, oder ob sich die Zeitung dafür anders ausrichten müsste, führte er nicht weiter aus. Dabei ist ja bekannt, dass Kontext und Medium Inhalte maßgeblich prägen. Könnte es wirklich eine gemeinsame Wissenschaftsseite oder andere Kooperationen mit der BILD geben, wenn gleichzeitig auf dem Titel des Mediums weiterhin Menschen an den Pranger gestellt und in ihren Grundrechten verletzt werden? Dieser Frage musste sich Boie nicht stellen. Stattdessen nutzte er seinen Schonraum und lenkte in drei Schritten von eigenen Verfehlungen der BILD ab: 

  • Er gestand wiederholt Fehler ein und zeigte sich reumütig.
  • Er verwies auf die Sozialen Medien, wo die Hetze noch viel schlimmer sei – ein klassischer Fall von „Whataboutism“, um sich selbst aus dem Fokus der Kritik zu nehmen.
  • Er betonte wiederholt, dass auch Journalist*innen von Hassrede bis hin zu Morddrohungen betroffen seien und brachte sich so in eine vermeintliche Opferrolle. 

Die besorgniserregenden Entwicklungen in den Sozialen Medien beklagte auch Otmar Wiestler und somit war der Konflikt auf „die anderen“ verlegt. Keine Rede davon, dass auch BILD die Kanäle nutzt, um die eigenen Aufmacher dort zu platzieren, und dass die Zeitung damit selbst Hass und Verschwörungserzählungen nährt.

BILD bleibt BILD

Boie konnte in dieser Diskussion – abermals unwidersprochen – behaupten, die BILD sei „die Stimme des Volkes“. Er betonte, dass sie das auch bleiben werde. Dieses Narrativ ist als Beschönigung der kalkulierten Hetze so alt wie die BILD selbst. Und so muss man die Aussage des Chefredakteurs dann wohl so interpretieren, dass das System BILD sich nicht ändern wird, nur weil einige Wissenschaftler*innen es gerade am eigenen Leib erleiden mussten. Anfangs hatte sich der Journalist auf „ethische Standards der BILD-Zeitung“ berufen. Niemand aus der Runde hatte da nachgehakt, auch die Moderatorin nicht. Wo man die denn nachlesen könnte, wäre zum Beispiel interessant gewesen, was wir uns darunter vorstellen könnten und wie diese im Einklang zu bringen wären mit den Inhalten der Rügen. Im Chat waren diese Fragen zu lesen, wurden aber für die Diskussion leider nicht ausgewählt.

Distanz mit Respekt

Irgendwann sagt Boie den Satz:

„Wir wollen keine Aktivisten sein, sondern Journalisten“.

Johannes Boie, Chefredakteur BILD-Zeitung

Da spricht er ein sehr interessantes Thema an, das aber weder für die BILD-Zeitung mit ihren Kampagnen hinterfragt, noch insgesamt vertieft wurde. Auch die Wissenschaftler*innen würden, hätte man sie gefragt, wohl gleiches von sich behaupten. Beiden Gruppen wird gerade das von Teilen der Öffentlichkeit nicht mehr so richtig geglaubt. Wie komplex und schwierig diese Grenzziehung aktuell und immer wieder ist, ist ja bekannt. Der Wissenschaftler Leonhard Dobusch zeigt in einem Vortrag beim Wissenschaftszenterum Berlin sehr gut, in welch paralleler Situation Wissenschaft und Journalismus sich befinden und welche Auswege es jeweils geben kann.  

Es wäre gerade wegen der fließenden Übergänge besonders wichtig, grundsätzlich eine gesunde Distanz zu bewahren: Wissenschaft zu Politik und Medien, genau wie die Medien zur Wissenschaft und zur Politik. Und genau deshalb sollten bei der gemeinsamen Umarmung auch Grenzen gezogen werden, wenn von Kooperationen und gemeinsamen Projekten die Rede ist, wie hier zu Abschluss der Runde. Kann es denn überhaupt ein „respektvolles Miteinander“ geben, das Wiestler fordert, mit einem Partner, der es in seiner journalistischen Arbeit immer wieder an Respekt gegenüber den Menschen vermissen lässt, die Gegenstand der Berichterstattung werden?

Der Sinn einer öffentlichen Debatte

Am Ende stellte sich mir noch einmal die Frage, ob es überhaupt richtig war, dieses Treffen öffentlich zu machen. Dass beide Seiten miteinander reden, ist richtig und wichtig. Warum aber hatte man sich nicht zu einem Gespräch ohne Publikum getroffen, wenn es eh offensichtlich nicht die Idee war, Boie zu irgendetwas zu verpflichten (das wäre mein Argument für eine öffentliche Veranstaltung gewesen)? Der Zweck des Austauschs wäre in einem nicht öffentlichen Gespräch genauso erfüllt gewesen.

Wenn der Dialog dann doch unter Einbeziehung der Öffentlichkeit stattfinden sollte, hätte für eine tiefere Auseinandersetzung das Podium anders besetzt sein müssen. Ich hätte mir ein*e Medienwissenschaftler*in gewünscht, die die Art der Berichterstattung der BILD insgesamt sehr gut kennt und kritisch(er) hätte nachhaken können.  

Für die Wissenschaft müssen Ausgang und Verlauf des Gesprächs im Vorfeld so offen gewesen sein, dass man sich verabredet hatte, erst im Anschluss zu entscheiden, ob man es nach dem Livestream veröffentlichen wollte. Auf Nachfrage verwies die Helmholtz-Gemeinschaft auf Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann, denen man das letzte Wort lassen wollte – verständlich. Es wird interessant sein zu sehen, wie die Entscheidung ausfällt, denn sie wird auch als Kommentar zu der Veranstaltung in Bezug auf eigene Erwartungen zu lesen sein. 

Nachtrag 2. Februar:

Die Helmholtz-Gemeinschaft antwortet auf Nachfrage nun heute, fünf Tage nach der Veranstaltung, dass die Diskussion nachträglich nicht mehr veröffentlicht werde. Eine unentschlossene Haltung, die doch auch eine Ambivalenz zu dem öffentlichen Treffen erkennen lässt:

Die Veranstaltung “Dialog zur Rolle des Boulevardjournalismus in Zeiten der Pandemie” war als öffentliches Live-Event konzipiert und angekündigt. Die Beteiligten haben verabredet, daran festzuhalten und auf eine Veröffentlichung der Videoaufzeichnung zu verzichten.

Helmholtz-Gemeinschaft auf Twitter

Weitere Berichte:

Wissenschaft und Boulevard: Quo vadis? Nachbericht der Helmholtz-Gemeinschaft, 28.1.2022

„Bild“-Zeitung und Corona:Gesprächstherapie – Bericht in der Süddeutschen Zeitung (Paywall) von Christina Berndt und Laura Hofreiter, 28.1.2022

„Boulevard muss Boulevard bleiben“ – von Timo Niemeier bei DWDL.de, 28.1.2022

„Gespräch mit Wissenschaft: ‚Bild’ will dazulernen“, Beitrag im Deutschlandfunk Kultur von Daniel Boughs mit O-Tönen aus dem Gespräch, 28.1.2022

Auf Twitter haben einige die Veranstaltung kommentiert, nachzulesen unter #BildvsWiss.