:  Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.

Die Monatsnotizen mussten ruhen im letzten Vierteljahr. Im Abstand von nur wenigen Wochen sind in diesem Frühjahr meine Mutter und mein Vater gestorben.

Es erschiene mir seltsam, meine Monatsnotizen wieder aufzugreifen, ohne es zu erwähnen. Gleichzeitig kann ich darüber nur wenig schreiben, auch, weil es die Privatsphären anderer berührt. Ich teile einzelne Texte und Podcasts, die ich gelesen bzw. gehört habe in der Zeit. Mehrere davon handeln von Tod, Abschied und Trauer. Ich habe mich in Vielem wiedergefunden und das Lesen als tröstlich empfunden.

Das für mich wichtigste Buch ist „Sterben im Sommer“ gewesen, von Zsuzsa Bánk. Die Autorin erzählt vom Tod ihres Vaters und dem Jahr danach. Stellenweise kam es mir vor, meine eigene Geschichte zu lesen. Ich hatte „Sterben im Sommer“ vor knapp einem Jahr schon einmal in der Hand und habe es damals, als meine Eltern schon krank waren, wieder zur Seite gelegt. Wenn ich irgendwann diese Monate wieder erinnern möchte, werde ich in „Sterben im Sommer“ erneut lesen. Es wird so sein, wie Musik zu hören, die in einem wichtigen Lebensabschnitt sehr präsent war und die einen sofort dorthin zurückholt und zu dem, was man einmal empfunden hat.

Immer haben mich meine Eltern so selbstverständlich, mühelos auf ihre leichte Art umgeben – dass es in den vergangenen Jahren jeden Tag hätte vorbei sein können, habe ich nie zu ernst genommen, aber doch geahnt und mit ein paar abseits liegenden, versteckten Nervenenden erspürt.

„Sterben im Sommer“, Zsuzsa Bánk, S. 12

Es ist nichts Besonderes, uns allen widerfährt es. Wir werden geboren und sterben, wir verlieren jemanden ans Sterben, und eines Tages verliert uns jemand ans Sterben. Warum mache ich es zu etwas Herausragendem? Als würde es nur mir widerfahren? (…)

Und doch, wenn uns diese Geschichte auswählt, wenn sie uns findet und zu Protagonisten macht, sind wir unvorbereitet, wissen wir nichts und können auf nichts zurückgreifen. Es zählt nicht, wenn andere das vor uns erlebt haben und wir daran teilhatten. Es zählt, dass wir es erleben. Nur wir erleben es so, nur wir erleben es auf unsere Art.

„Sterben im Sommer“, Zsuzsa Bánk, S. 71

Nur die Zeit davor haben wir in der Hand. Die letzten Tage mit Leben füllen, so gut es geht, so viel davon noch da, so viel noch abzurufen ist – nur das ist möglich. Das Studium unterbrechen, Großstadt und Arbeit aufgeben, in den Heimatort zurückkehren und in den letzten Monaten da sein, sie nicht versäumen.

„Sterben im Sommer“, Zsuzsa Bánk, S. 71

Der Philosoph Wihelm Schmid über die Energien, die bleiben

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat seine Frau verloren, als sie erst 59 Jahre alt war und an einer Krebserkrankung verstarb. In einem Text über den Umgang mit der unausweichlichen Wahrheit, dass sie nicht mehr lebt, beschreibt er eine Erfahrung, die vermutlich viele teilen, die Abschied nehmen mussten: Der oder die Tote ist nicht mehr da und doch überall spürbar. Dazu hat er einen Text in der NZZ publiziert:

Der Tod hat mir meine Frau genommen. Aber vielleicht ist sie im Tod zu einem Teil von mir geworden.

Der Mensch stirbt, nicht jedoch die Energien. Nichts geht verloren. Das ist keine letzte Wahrheit, hat aber viel Plausibilität für sich, nach heutigem Wissensstand. Dass die Energie, die einen Menschen belebt, nach seinem Tod weiterhin da ist, folgt aus dem Energieerhaltungssatz. Laut diesem können Energieformen ineinander umgewandelt, nicht aber vernichtet werden.

Subjektiv fühle ich jedoch, wie nach ihrem Tod etwas von der Energie ihrer Ausstrahlung in mich übergegangen ist und mich dazu bewegt, mehr so wie sie zu denken, zu fühlen und zu handeln, freundlicher, aufgeschlossener, nachsichtiger. Immer öfter bemerke ich, dass ich ihre bedächtigen Schritte übernehme, statt wie gewohnt voranzustürmen.

Wilhelm Schmid, NZZ, 1.11.2022

James Bridle über einen neuen Blick auf die „zwei Welten“

Von Wilhelm Schmid habe ich eine direkte Verbindung gefunden zu einem Sternstunden-Gespräch mit James Bridle, Künstler und Autor, der sich als Publizist immer wieder mit neuen Technologien auseinandersetzt. Der Text handelt eigentlich von einem neuen Blick auf den vermeintlichen Dualismus von Natur und Technik. Bridle gehört einer Denkrichtung an, die sich vom menschenzentrierten Weltbild verabschiedet und die Grenzen zwischen Mensch und Natur neu denken möchte. Dabei geht er in Teilen so weit, dass ich das Gespräch gleich zweimal gehört habe, um eine Meinung dazu zu entwickeln – was mir immer noch nicht ganz gelungen ist. Die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen menschlich und technisch behindern uns seiner Meinung nach in unserer Erkenntnisfähigkeit: „Die Welt ist nicht dazu gedacht, um in wissenschaftliche Sprache, Kategorien zu passen“, sagt er in dem Gespräch in der Sternstunde Philosophie. Es geht in der Sendung um sein neues Buch: „Die unfassbare Vielfalt des Seins“. Vor allem in seiner Verabschiedung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ und von seiner Bewunderung für die Intelligenz, die wir in der Natur beobachten können, hat er mich an Dirk Brockmann und sein Buch über Komplexität erinnert. Interessant finde ich, wie das auch einen neuen Blick auf Künstliche Intelligenz richtet und den eh schon umstrittenen Begriff vollkommen obsolet erscheinen lässt:

Intelligenz meint: etwas Relationales, was sich wie ein Netzwerk zwischen Wesen und Dingen entfaltet. Die Frage nach dem eigenen Bewusstsein spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. 

James Bridle, Sternstunde Philosophie vom 26. März 2023, Wiederholung 4.6. 2023

Bridle hebt die Grenzen zwischen Kultur und Natur auf, und auch die Grenzen der Körper der Menschen als Abgrenzung untereinander und zu anderen Lebewesen und auch Dingen hinterfragt er. Die Ränder verwischen:  

„Wir laufen ständig mit zwei bis drei Kilogramm anderer Lebenswesen auf und in uns herum.“

Auch auf den Tod werfen die Überlegungen ein neues Licht, für mich war es ein tröstliches: Wenn wir davon ausgehen, dass der menschliche Körper das Sein gar nicht begrenzen kann, wenn diese Grenzen viel flexibler sind, als sie es uns bislang erschienen, dann kann dieser Körper mit dem Tod auch nicht verschwinden.

Nicht nur die Grenzen des Körpers sind fluide, sondern auch die Psyche. Wir erben nicht nur Haarfarben und Augenformen von früheren Generationen, sondern auch Talente und Traumata, und auch die Fähigkeit zu Resilienz. Von diesen transgenerationale Kräften handelt eine Dokumentation von ZDF-Aspekte: „Von Familiengeheimnissen, vererbten Talenten und Wunden, die erst nach Generationen aufbrechen.

Kristine Bilkau und das Schwimmen

Ich liebe alle drei Romane von Kristine Bilkau. Nun hat sie ein wunderbares Buch über das Schwimmen herausgebracht: Wasserzeiten. Ein Essay mit kulturgeschichtlichen, historischen und auch soziologischen Einflechtungen, vor allem aber mit persönlichen Erinnerungen. Kristine Bilkau denkt zurück an besondere Orte, an das gemeinsame Schwimmen mit dem Vater, der – bereits verstorben – ihr beim Schwimmen immer wieder begegnet. Sie schreibt über die Bedeutung des Schwimmens im Alltag als eine Art Mediation – eine Beobachtung, die ich teile. Der Text von Kristine Bilkau hat mir erneut aufzeigt, wie viele Parallelen es zwischen dem Schwimmen und dem Gehen gibt – und warum ich beides so mag und brauche im im Leben:

„Doch vielleicht gibt es etwas, das all diese Erlebnisse, Eindrücke und Momente miteinander verbindet, das die Faszination und das Glück des Schwimmens grundsätzlich ausmacht. Vielleicht besteht dieses Glück darin, dass für einen Moment alles im Einklang ist, der Ort, die Zeit und man selbst.“

Kristine Bilkau, „Wasserzeiten. Über das Schwimmen.“, S. 119

Im NDR-Hamburg-Journal stellt die Autorin ihr Buch vor – im schönen Kaifu-Bad, direkt hier um die Ecke.

Ein Podcast über das tröstende Potenzial von Büchern

Während ich das hier schreibe, erinnere ich mich an die Episode des Podcasts „Sexy und bodenständig“ von Alena Schröder und Till Raether über den Trost, die ich vor längerer Zeit einmal gehört habe. Es gab darin eine Empfehlung des Essais „Trost. Vier Übungen“ von Hanna Engelmeier, ein Buch, das jetzt noch einmal zu mir finden wird. Eigentlich hat fast jede Episode dieses Podcasts für mich etwas Tröstliches. Die beiden Journalist*innen und Buchautor*innen tauschen sich neben anderem immer wieder über das aus, was nicht so gut läuft, über Zweifel, Hürden und Prokrastination. Das geschieht auf eine liebevolle, warmherzige und auch lustige Art und Weise, die auch den Zuhörenden immer wieder mit einschließt. 

Was ist Trost und wie suchen wir ihn in Büchern oder anderer Kultur? Was haben Kinderbücher damit zu tun, und warum geht es dabei eigentlich immer um Gemeinschaft? Ist tröstliche Literatur Trivialliteratur, und wenn ja, was spricht überhaupt dagegen? 

Inhaltsangabe zu „Sexy und Bodenständig, Folge 73

Die Verfilmung von „Laufen“ von Isabel Bogdan 

Im Jahr 2019 hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Isabel Bogdan einen Roman herausgebracht, den ich damals sehr beeindruckend fand: In „Laufen“ findet eine junge Frau einen Weg, mit der Trauer um ihren Freund umzugehen, indem sie regelmäßig joggen geht. Erst sehr mühsam, mehr und mehr wird es Teil ihres neuen Alltags. Über den zunächst sehr präsenten, körperlichen Schmerz beginnt sie, auch ihren seelischen Schmerz wahrzunehmen – und damit zu leben.

Der Regisseur Kaufmann hat die Verfilmung übernommen, und es war bestimmt eine Herausforderung, aus den inneren Monologen eine filmbare Erzählung zu gestalten. Ich finde die Umsetzung gelungen. Mehr noch als im Buch habe ich „Laufen“ auch als eine Erzählung über die Freundschaft verstanden und gerade dafür sehr gemocht. Wie wichtig es ist, eine gute Freundin an der Seite zu haben, wenn man sich in der Trauer auch verlieren könnte.

Der Film ist bis nächstes Jahr in der ZDF-Mediathek verfügbar.

„Vom Top-Management in die Elternpflege“

Im Lockdown kommt die Top-Managerin Verena Schneevoigt das erste Mal wieder richtig in Kontakt zu ihren Eltern – und bemerkt, dass diese mittlerweile auf Hilfe angewiesen sind. Sie kündigt ihren hochdotierten Job als IT-Managerin und beschließt, sich um ihre eigenen und parallel auch um die Schwiegereltern zu kümmern. Die Dokumentation „Echtes Leben“ handelt von diesem bemerkenswerten Schritt und wie er sich in der Realität gestaltet. Die Familie hat mit der Entscheidung von Verena Schneevoigt erst einmal eine gute Lösung gefunden. Es ist beeindruckend mit anzusehen, wie sich der Alltag für beide Seiten verändert, sehr bereichernd, wie offen Verena Schneevoigt und ihr Mann darüber reden können. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass es erst einmal eine temporäre Lösung ist, so lange noch keine intensive Pflege notwendig ist. Und es wird klar, dass der Weg von Verena Schneevoigt eben nur für die eine Option ist, die finanziell unabhängig sind und keine Kinder haben. Tausende von anderen Familien stecken in der klassischen Sandwich-Position zwischen der Pflege der Eltern und der Verantwortung für die eigenen Kinder.

„Der brennende See“ von John von Düffel

Auch John von Düffel mag ich für alles, was er über das Wasser und das Schwimmen geschrieben hat. Sein Roman aus dem vergangenen Jahr erzählt, wie eine junge Frau, Hannah, nach dem Tod ihres Vaters in ihre Heimatstadt zurückkehrt und versucht, zu verstehen, wie und wofür ihr Vater die letzten Jahre gelebt hat. Sie hatten sich entfremdet. Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund der Klimakrise und dem Widerstand dagegen – beides nimmt Hannah eher als Beobachtende wahr. 

Die Spurensuche scheint mit dem Tod der Eltern offensichtlich eng verbunden. Selbst wenn wir viel mit ihnen gesprochen haben, bleibt immer ein Teil, den wir nicht erfassen werden, der uns verborgen bleibt. Was haben sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, was hat sie zu dem gemacht, was sie geworden sind? Ich selbst erlebe dieses Suchen als positiv, eine schöne Form der „Besitzergreifung“, wie sie hier genannt wird:

Sie hatte den Tod unterschätzt. Ihr hätte klar sein müssen, dass er nie nur einen Einzelnen betraf, sondern alles um ihn herum erfasste. Der Tod war die letzte große Besitzergreifung. In ihm kulminierte die gesamte Macht eines Menschen über das Leben der anderen. Er war auch nicht wie das Sterben, durch das sich eine Kluft auftat zwischen dem Sterbenden und der Welt. Der Tod war nicht einsam, sondern die Aufhebung aller Einsamkeit. Seither spürte Hannah ihren Vater mehr als im Leben.

John von Düffel, Der brennende See, Seite 134

„Roter Himmel“ von Christian Pätzold

Auch der einzige und ganz sicher nicht nur deshalb zugleich beste Kinofilm, den ich dieses Jahr gesehen habe, spielt „vor dem Hintergrund der Klimakrise“. Und so ist es ja auch: Mehr oder weniger erfolgreich schieben wir die Katastrophe immer wieder in den Hintergrund. Und in Bayern werden die Wohnungen derjenigen durchsucht, die das Thema auf Bühne eins holen wollen.

Christian Pätzold und die Band „Wallners“ haben zusammengefunden, beide mag ich sehr. Pätzold der in einem Interview sagte, dass er Filmmusik hasse, hat für seinen neuesten Film für die wenigen Szenen den Debut-Titel „In my Mind“ ausgewählt. Der Film wurde auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet und wird immer wieder mit den Werken des französischen Filmemachers Eric Rohmer verglichen, zu Recht. Das Setting erscheint klassisch: Vier junge Menschen treffen sich im Sommerhaus, und am Ende ihrer Zeit werden ihre Beziehungen untereinander anders sein als zuvor. „Im Hintergrund“ erscheinen die Waldbrände in der ausgetrockneten Küstenregion. Sie schieben sich zum dramatischen Ende brutal in den Vordergrund, und man geht dann doch etwas beklommener aus dem Film heraus als man sich nach einer Rohmer-Sommerzählung fühlen würde.

„Wallners – In my mind“

Lob des Gehens – Erinnerung an meinen ersten Gast im Podcast

In meinem eigenen Podcast, den ich vor gut zweieinhalb Jahren gestartet habe, war mein Vater mein erster Gesprächspartner für die Auftaktfolge. Er erzählt darin, was im das Laufen und Gehen in seinem Leben bedeutet und sagt am Ende diesen schönen Satz, den ich immer wieder gerne höre. Ich bin sehr froh, dass ich damals das insgesamt viel längere Gespräch mit ihm aufgenommen habe und jetzt immer wieder hineinhören kann.

Meine Kinder, die haben gesehen, dem Papa, dem geht’s ja beim Laufen ganz gut, dann machen wir das auch mal. Die laufen alle und irgendwie freut mich das auch. Bin ich ganz ehrlich. Schönen Dank.

Lob des Gehens, Episode 0, Oktober 2020