:  Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.

Vor vier Jahren im März zwang uns die Pandemie in den ersten von mehreren Lockdowns. Mit einem großen Interesse an wissenschaftlichen Fragen einher ging die Schattenseite dieser neuen Aufmerksamkeit: Hass, Beschimpfungen und öffentlicher Druck gegen Wissenschaftler*innen. Christian Drosten war davon in besonderer Weise betroffen, weil er sich bewusst sehr intensiv in der öffentlichen Kommunikation engagiert hat. Ihm war damals klar, dass Kommunikation und Aufklärung eines der wichtigsten Instrumente gegen die Ausbreitung des Virus sein würden. 

Ende dieses Monats erschien ein Bericht in den Medien über einen Prozess, der nun begonnen hat: Christian Drosten hatte 2022 Anzeige erhoben gegen zwei Männer und eine Frau, die ihn im selben Sommer auf einem Campingplatz wiederholt übelst beschimpft und bedroht hatten, im Beisein seines vierjährigen Sohnes.

„Ich habe mich bedroht und beleidigt gefühlt“, sagte Drosten. Er sei mit seinem vierjährigen Sohn vom Zähneputzen auf dem Rückweg zum Zelt gewesen. Dann habe sich ihnen der 49-Jährige mit einer Bierflasche in der Hand in den Weg gestellt und ihn lautstark grölend als Massenmörder beschimpft, der in den Knast gehöre. Die 51-Jährige habe ihn am Tag darauf mit einem „Redeschwall aus Fäkalwörtern“ übergossen, so Drosten.

NDR, 19.3.2024

Es war ja schon damals auf Social-Media-Kanälen teilweise live mitzuerleben, welchen Vorwürfen der Wissenschaftler ausgesetzt war. Die Schilderung des Vorfalls auf dem Campingplatz hat mich besonders berührt. Sie zeigt in verdichteter Form den Druck und die Übergriffe, denen Drosten und auch andere Wissenschaftler*innen über Jahre ausgesetzt waren. Der Vorfall veranschaulicht, was viele Betroffene immer wieder betonen: Hass und Beschuldigungen treffen einen Menschen immer in seiner ganzen Identität, hier den Wissenschaftler als Familienvater im Urlaub. Was solche Begegnungen in einem kleinen Kind auslösen können, welche Sorgen sich ein Vater nach so einem Vorfall machen wird, welche Anspannung es bedeutet sich in einer der privatesten Situationen verfolgt zu sehen, das alles lässt sich nur erahnen.

Wissenschaft unter Druck

Wie betroffene Wissenschaftler*innen öffentliche Anfeindungen und Hass im Netz erleben, wie sie damit umgehen und vor allem, wie sich dagegen auch wehren können – zu dem Thema hatten die ZEIT-Stiftung mit Partnern am 29. Februar ein Symposium veranstaltet. Das Portal SciComm-Support war einer der Partner und ist übergreifende Anlaufstelle für Betroffene bei „Angriffen und unsachlichen Konflikten“, die alle Wissenschaftler*innen kennen sollten. 

Die Veranstaltung endete mit einer Podiumsdiskussion, in der sich mit Prof. Alena Byx, Prof. Christian Drosten und Hamburgs Kultursenator Dr. Carsten Brosda Menschen äußerten, die öffentlichem Druck ausgesetzt waren und sind. Bei Christian Drosten war deutlich zu erkennen, dass er sich von der Rolle des öffentlich kommunizierenden Wissenschaftlers nur zu gerne wieder zurückgezogen hat, um wieder intensiv forschen zu können. Beides sei unvereinbar, betonte er. Bewundernswert finde ich, wie klar er im Nachhinein seine Funktion als Kommunikator reflektiert und hervorhebt, dass seine Rolle gar nicht so sehr darin bestanden habe, im Podcast die harten Fakten zu transportieren:

„Es war die Vermenschlichung oder das menschliche Gefühl, das die Leute hatten, mit der Wissenschaft. Das war meine Person, das war Sandra Ciesek (…) und das waren natürlich die Moderatorinnen – es war der Ton von diesem ganzen Medienprodukt. Das hat glaube ich den Leuten viel geholfen.“

Christian Drosten, Podiumsdiskussion des Symposiums „Expertise unter Druck“, 29.2.2024, ca. 1:35

Sicher ist es kein Zufall, dass diese Form der Begleitung von Menschen in der Krise über den Podcast so gut funktioniert hat – das „persönlichste Medium überhaupt“ (Tim Pritlove). Ich zitiere mich selbst:

Persönlichkeit schafft nicht nur einen anderen Blick auf das Erzählte, sie schafft auch Vertrauen – wichtiger Pluspunkt in einer Zeit, in der das Publikum nach Orientierung sucht (…).

Nicola Wessinghage, „Ich kenn dich aus deinem Podcast“, 1. Januar 2018

In derselben Diskussion berichtete Kultursenator Carsten Brosda, warum er sich vor Kurzem von der Plattform X zurückgezogen hat. Nach einem Posting über die Demos in Hamburg gegen das Erstarken rechtsextremer Bewegungen hatte er sich mit unzähligen Kommentaren konfrontiert gesehen. Ihm wurde vorgeworfen, das Bild aus der Tagesschau, das er geteilt hatte, sei bearbeitet, es seien gar nicht so viele Demonstrierende dabei gewesen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was da alles zu lesen war. 

Erstaunlicherweise sagte Brosda, er habe die Plattform verlassen, obwohl er eigentlich gar nicht davon überzeugt sei, dass das dies richtige Reaktion sei. Dabei zeigt doch gerade sein Beispiel, dass das vermeintliche Position beziehen, „eine Stimme sein“ gegen die demokratiefeindlichen Stimmen, gegen Hass, Antisemitismus und Rassismus auf X längst schon obsolet ist. Ein Kanal, der dermaßen kaputt ist, macht solche kommunikativen Anstrengungen irrelevant. Sie werden nur noch als Anlass genutzt, weitere Verschwörungserzählungen zu verbreiten. 

Warum X keine Alternative ist, hat Michael Seemann klar und eindeutig formuliert in seinem neuen Newsletter „Krasse Links“: 

Leute auf X sagen oft immer noch „Twitter“ zu dem Dienst und glauben Musk damit irgendwie zu ärgern, dabei ist das eher ein Teil ihrer eigenen Verdrängungsstrategie. Sie können nicht akzeptieren, dass Twitter aufgehört hat zu existieren und sie ihre Witzchen jetzt auf einer Nazipropagandawaffe veröffentlichen.

Michael Seemann „Krasse Links No 8.“

Alkohol, Nüchternsein und Wissenschaft im Dienst der Imagearbeit

Als letztes Buch meiner Daniel-Schreiber-Lektüre habe ich im März das erste seiner Trilogie gelesen, „Nüchtern“. Im Stil seiner beiden folgenden biografischen Essays entwickelt Daniel Schreiber in seinem Text entlang seiner persönliche Erfahrungen Gedanken zum problematischen Umgang mit Alkohol in unserer Gesellschaft. Die Droge sei einerseits allgegenwärtig und akzeptiert, andererseits wüssten wir so wenig über Alkoholismus als Krankheit – nicht einmal, dass es eine Krankheit ist. Er konfrontiert uns damit, in welchen Klischees wir von der Sucht, der Entwöhnung und dem Leben in Nüchternheit denken. Immer wieder zeigt er an verschiedenen Beispielen, wie sehr wir Alkohol in seiner Wirkung bagatellisieren – unter anderem, wenn wir glauben, suchtkranke Menschen könnten den Umgang mit Alkohol „kontrollieren“.

Das Buch hat auf jeden Fall eine höhere Aufmerksamkeit für die Themen Alkohol und Nüchternsein in mir ausgelöst: Kurz nachdem ich es gelesen hatte, erschien im Podcast „Hotel Matze“ ein Gespräch mit Til Schweiger. Ohne „Nüchtern“ gelesen zu haben, hätte ich die lange Episode über drei Stunden ignoriert. 

Die Selbstdarstellungen von Til Schweiger erscheinen nahezu tragisch, weil an jeder Stelle deutlich wird, wie sehr der Schauspieler hier um die Deutungshoheit seines Bildes in einer Öffentlichkeit kämpft, die ihn spätestens mit Erscheinen eines Spiegel-Titels als alkoholkrank und übergriffig verurteilt hat. Alles, was er sagt, führt jedoch dazu, dass man am Ende genau das vermutet: Til Schweiger hat ein Alkoholproblem und ist sich nicht bewusst, dass er in seiner Position Macht über andere hat – und deshalb ist ihm auch nicht klar, wenn er diese Macht missbraucht. Genau das hatten einzelne Mitglieder eines Filmteams im letzten Jahr in einem Spiegel-Bericht geschildert.

Das Gespräch zu hören fand ich teilweise kaum erträglich. Man ist Matze Hielscher sehr dankbar, dass er immer wieder versucht, Til Schweiger Brücken zu bauen. Zum Glück nutzt er niemals aus, dass der Schauspieler sich um Kopf und Kragen redet. Voller Widersprüche berichtet der über seinen Umgang mit Alkohol, den er immer wieder als harmlos und „normal“ darstellt. Eine gute Analyse des Gesprächs findet sich im Podcast „Feel the news“ von Jule und Sascha Lobo.

Bei der Verharmlosung wird sein Therapeut zum Fürsprecher, den Til Schweiger im letzten Jahr zu Rate gezogen hat und dessen Namen er im Podcast nennt: Florian Holsboer, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Wer sich mit Holsboer beschäftigt, wird schnell auf seine private Stiftung stoßen, die sich der Aufklärung über Depressionen und über psychische Gesundheit verschreibt. Was unter diesem so guten Ansatz dann an Themen lanciert wird, ist bedenklich: Stark unterkomplexe Gespräche über „Digital Detox“ im Podcast der Stiftung, Bagatellisierung von wissenschaftlich erwiesenen Folgen des Klimawandels, Diffamierung des Genderns, etc. Man fragt sich also, bei wem Til Schweiger da gelandet ist. Ein sehr erfolgreicher Wissenschaftler, dessen Karriere allerdings damit endete, dass man ihm als Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie sein Budget entzog, als es vermehrt zu Vorwürfen wegen Machtmissbrauchs gegenüber Untergebenen gekommen war. Die FAZ berichtete damals darüber. Wieviel Erfahrung er in der therapeutischen Praxis hat, ist seinem Lebenslauf nicht zu entnehmen.

Holsboer hatte Schweiger bereits im letzten Jahr im Dezember in seinen eigenen Podcast eingeladen. In „Alles nur im Kopf“ lässt sich der Wissenschaftler üblicherweise der Moderatorin Ina Tens befragen. Manchmal lädt er weitere Gäste, seine Patienten (oder Kunden?), dazu. Schon das Setting ist also mehr als schräg. In der Folge mit Til Schweiger ist sich Holsboer nicht zu schade, seinen Patienten bei seiner Imagearbeit zu unterstützen – die ganze Folge scheint nur einem Zweck zu dienen: Til Schweiger eine Bühne zu bieten, um sich von allen Vorwürfen freizusprechen. Der rechtfertigt sich in ähnlicher Weise wie einige Monate später in „Hotel Matze“. In diesem Podcast aber ist die Moderatorin Stichwortgeberin und Verstärkerin des Freispruchs, anders eben als Matze Hielscher seine Rolle offensichtlich sieht. 

Holsboer selbst unterstützt Schweiger mit einseitigen Definitionen von Alkoholsucht, spricht ihn quasi davon frei – mit wiederum sehr fragwürdigen Argumenten, wie im Ausschnitt aus dem Podcast zu sehen ist.

Kein Hinweis darauf, dass es verschiedene Formen von Alkoholsucht gibt. Keine Information darüber, dass es auch unter alkoholkranken Menschen durchaus Betroffene gibt, denen Zeiten der Abstinenz gelingen, ohne dass sie dadurch geheilt sind. So verstärkt sich um ein weiteres das Klischee, das Daniel Schreiber in seinem Buch beschrieben hatte. 

Als Video erscheint das Gespräch auch auf YouTube, in kurzen Ausschnitten auf TikTok – die Holsboer Foundation ist auf allen Kanälen präsent. Die therapeutische Arbeit umfasst offensichtlich zugleich die Imagepolitur. Leider mag die gewünschte Korrektur des öffentlichen Bildes von Til Schweiger hier ebenso wenig gelingen wie bei Hotel Matze. Denn schon im Gespräch bei Holsboer verstrickt sich Til Schweiger in die gleichen Widersprüche wie einige Monate später.

In seinem ganzen Wirken als emeritierter Wissenschaftler, Unternehmer (nach seinem Abschied aus dem Max-Planck-Institut hatte er ein Startup mit Carsten Marschmeyer zur individualisierten Medizin gegründet) und nun als Therapeut ist Holsboer mir von außen aus betrachtet suspekt.  

Wirklich bedenklich aber finde ich vor allem, dass er seine Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler dafür einsetzt, seine persönlichen politischen Ansichten zu verbreiten oder Imagearbeit für seine Klienten zu betreiben. Bedenklich, weil er es dabei mit der wissenschaftlichen Faktenlage auch mal nicht so genau nimmt, wie das Thema Alkoholsucht schon zeigt. Kritisch finde ich zudem, dass er sich unter dem Vorwand, Menschen von ihren Ängsten zu befreien, zu Themen äußert, zu denen er wissenschaftlich nicht gearbeitet hat – und dass er dieses nicht kenntlich macht. 

Er ist darin das Gegenmodell zum Typ Christian Drosten, der die Öffentlichkeit im Interesse des Allgemeinwohls sucht, um seriöse Aufklärung bemüht ist, transparent macht, wenn er sich zu Themen äußert, in denen es nicht mehr um sein wissenschaftliches Fachgebiet geht. Und der das alles nur so lange fortsetzt, wie es im Sinne der öffentlichen Aufklärung notwendig erscheint, um sich danach zu seiner eigentlichen Forschung zurückzuziehen. 

Nüchternsein feiern

Hamburg hatte im Januar sein erstes „Nice Dry!“- Event (der Link führt zu Instagram) – ein Festival, das die Nüchternheit feiert. Initiiert hat das Ganze Maurice Rieger, der seit Anfang April bei uns in der Agentur das Design-Team erweitert. Im März habe ich mir den Podcast zum Event angehört. Ich empfehle das allen weiter, die Interesse daran haben, mehr darüber zu wissen, wie Menschen heute anders über Alkohol denken als es in der Generation von Til Schweiger (meine Generation …) noch vorherrschende Meinung war und ist. Ich mag es, wie das Nüchternsein als Gewinn gefeiert wird, statt den Verzicht zu beklagen.

Nice Dry! liegt im Trend, ich habe auch in Podcast wie Soda Club und Kater.Sucht. Freiheit hineingehört. Was mir beiden gefallen hat, ist die Mischung aus persönlichen Geschichten und gesellschaftlichen Aspekten rund um Alkohol und Abstinenz.

Mit seiner Initiative, die er weiterführen möchte, wurde Maurice im Wettbewerb des Deutschen Designer Clubs (DDC) in der Kategorie „Kommunikation“ ausgezeichnet. Auf der Seite des DDC wird „Nice Dry“ ausführlich inhaltlich und visuell vorgestellt:

Nice Dry! ist eine Initiative für Trockenheit und Suchtprävention, die an eine Welt glaubt, in der Nüchternheit und Klarheit für viele Menschen relevant ist. Deshalb arbeitet ND! an kreativen Maßnahmen, die das Image von Nüchternheit positiv belegen und die Stigmatisierung von Suchterkrankungen abbauen. Im Rahmen des „Dry January“ fand das Event in Hamburg statt. Die lebensbejahende CI und Kommunikation machten das Kunst- & Kulturevent niederschwellig und für eine breite Zielgruppe attraktiv.

Einleitung des Beitrags zum Wettbewerb des DDC

Und sonst noch 

Und weil die Notiz schon so lang ist, nun am Ende einfach noch ein paar Links:

In Sternstunde Philosophie kommen Bernhard Pörksen und Rolf Dobelli zum Gespräch über Digital Detox zusammen. Erstaunlich, wie einfältig Dobelli glaubt, mit einem Handyverbot alle Probleme aus der Welt zu schaffen. Schöne Sätze von Bernhard Pörksen, der sich eine „angewandte Irrtumswissenschaft“ in den Schulen wünscht.

Hate Speech – Der Film: „Die Frage, wie wir mit digitalen Technologien unser Zusammenleben gestalten möchten, geht uns alle an“, sagt Junior-Professorin Dr. Jennifer Eickelmann im Film. Deshalb hat sie mit ihrem Team an der FernUniversität in Hagen einen Film über Hatspeech produziert. „Woher kommt der Hass, der sich häufig mit voller Wucht entlädt und insbesondere marginalisierte Gruppen trifft? Wie kann man darauf reagieren? 

Können humanoide Roboter uns bald im Haushalt helfen? Laut Bericht in der NZZ dauert das noch mindestens Jahrzehnte. Ein Video mit „Figure 1“ lässt anderes vermuten. Mir hat der Roboter auch in seinem „Dynamic Walking“ sehr gut gefallen. Open AI, Amazon und andere Geldgeber investieren gerade kräftig in die Weiterentwicklung.

„Ein Song reicht“ – aber das dann jeden Tag. Das ist das Konzept des Newsletters der Booking- und Managementagentur „Golden Ticket“. Die Idee dahinter: gute Stücke kennenzulernen, die in Deutschland produziert worden sind, von interessanten Menschen kuratiert und präsentiert statt vom Algorithmus der Plattformen – jeden Tag im Newsletter. Schon jetzt habe ich dabei gute, sehr unterschiedliche Musik kennengelernt. Genauso anregend wie das Hören der Musik sind die kurzen Texte, mit denen die Kurator*innen ihre Stücke anpreisen. Sehr empfehlenswert.

Die musikalische Hymne aufs Nüchternsein kommt von Tocotronic: