Die zunehmend bedenklichen Entwicklungen der privaten, zentralisierten Social-Media-Plattformen gefährden die freie Meinungsbildung in unserer Demokratie, sagt der Autor Björn Staschen. Er stellt alternative Ansätze und Lösungen zur Diskussion.

Der Journalist, Autor und Medienwissenschaftler Björn Staschen hat ein Buch geschrieben, mit dem er vor der Auflösung des freien, meinungsbildenden Diskurses warnt. Entdeckt habe ich den Hinweis auf „In der Social-Media-Falle“ auf einer der Social-Media-Plattformen, die er für diesen drohenden Verlust verantwortlich macht. Björn Staschen, der bis vor Kurzem noch recht aktiv auf LinkedIn kommunizierte, wird in Zukunft weder dort noch auf Instagram, X oder Facebook über sein Buch diskutieren. Denn zum Erscheinungstag hat er sich Ende September von allen Kanälen verabschiedet – mit Ausnahme von Mastodon und Bluesky. Er ging mit dem Hinweis, man solle sein Buch lesen, um zu verstehen, warum. Eine konsequente Schlussfolgerung aus dem eigenen Text.

Ein Schritt, der neugierig macht, auch wenn er angesichts der aktuellen Entwicklungen bei X, ehemals Twitter, nicht ganz überraschend kommt. Schon vorher gab es gute Gründe, auszusteigen. Einzelne haben sich auch bereits vor längerer Zeit verabschiedet, wenn auch nicht alle so konsequent von allen Kanälen. Ich erinnere mich an den viel kommentierten Rückzug Robert Habecks von Twitter (der aber anschließend auf Instagram und LinkedIn umso aktiver geworden ist). Die Bildungspädagogin Nele Hirsch hat bereits vor einem Jahr beschrieben, was sie weg von Twitter & Co und hin zum Fediverse zieht: 

Vor diesem Hintergrund erübrigt sich für mich auch die Frage, ob man denn vielleicht nicht irgendwann vielleicht doch zu Twitter zurückkehren kann oder ob Twitter sich vielleicht gar nicht so sehr verändert, dass solch ein Wechsel gerechtfertigt ist. Denn dass ein dezentrales und offenes Netzwerk grundsätzlich besser ist als proprietäre Dienste und für mich auch die wünschenswerte Zukunft des Internets darstellt, daran habe ich keine Zweifel.

Nele Hirsch, Erfahrungsbericht über meinen Weg ins Fediverse, 11.11.2022

Fakten und Hintergründe, die uns beunruhigen sollten

Björn Staschen gibt nun weitere Anstöße und stellt in seinem Buch die Fakten und Hintergründe der sozialen Netzwerke und ihrer Betreiber (alle männlich) zusammen. Was da gebündelt zu lesen ist, könnte uns veranlassen, seinem Beispiel zu folgen. Das Bemerkenswerte: Wer die Entwicklungen von Social-Media-Kanälen regelmäßig verfolgt, wird zunächst nicht viel Neues erfahren – es scheint auch nicht so, als sei das Anliegen dieses Buches. Vielmehr beeindruckt die Summe der negativen Auswüchse, die hier zu lesen sind. Die Frage, die Björn Staschen wiederholt stellt, erscheint mehr als berechtigt: Wollen wir unseren gesellschaftlichen und auch privaten Austausch wirklich auf diesen Plattformen organisieren?

Björn Staschen erklärt, wie die Betreiber von Facebook und Co uns an die Netzwerke binden, wie sie kritische Inhalte puschen, wie sie Techniken und psychologische Strategien so einsetzen, dass wir das Smartphone nicht mehr aus der Hand legen wollen. Zuspitzungen wie „Plattformnutzung macht abhängig wie Zigaretten“ haben mich allerdings irritiert. Zu oft wird der Suchtbegriff im Zusammenhang mit Internetnutzung und Social-Media-Kommunikation leichtfertig und damit unzutreffend genutzt – so auch hier. Allen, die das ewige Thema „Internetsucht“ einmal fundiert diskutieren wollen, empfehle ich die Episode „Volksdroge Internet“ des Podcasts „Kannste vergessen“ von der Ruhr Universität Bochum. Darin geben die Wissenschaftler Oliver Wolf und Matthias Brand  eine sehr eindeutige Definition des Suchtbegriffs.

Darüber hinaus kritisiert Björn Staschen auch den Einsatz intransparenter Algorithmen, die ohne jegliche Form von Regulierung mehr und mehr Einfluss darauf nehmen, welche Inhalte wir wahrnehmen und welche nicht – sicherlich ein zentraler Kritikpunkt. Hier war ich überrascht, dass Staschen in Bezug auf die Wirkung der Algorithmen noch die Theorie der Filterblase von Eli Pariser (2011) zitiert. In wissenschaftlichen Kreisen und darüber hinaus besteht eigentlich ein Konsens, dass sie in der Form, wie Pariser sie formuliert hat, nicht haltbar ist. Gut dargestellt und belegt ist das in den Internetmythen, die das Hans-Bredow-Institut für Medienforschung zusammengestellt hat. Dennoch ist es natürlich richtig, die Algorithmen zu kritisieren, vor allem deshalb, weil sie für User*innen nicht nachvollziehbar sind.

Einfluss der Tech-Gigangen auf Journalismus

Am stärksten finde ich das Buch an den Stellen, an denen Björn Staschen auf den Einfluss der Tech-Unternehmen auf den Journalismus abhebt. Scheinbar gemeinwohlorientierte Aktivitäten der Tech-Giganten – etwa die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Journalismus – entlarvt er als reine Strategien der Unternehmen, um sich die Marktdominanz zu sichern. Am interessantesten, weil mir selbst bislang am wenigsten bekannt, fand ich die Darstellung der Verflechtungen der vorrangig männlichen Gründer untereinander („Spinnen im Netz“), die Beschreibung ihrer Egomanien, ihrer teilweise bedenklichen politischen Haltungen und ihrer fragwürdigen Moralvorstellungen. 

Ein, vielleicht zwei Dutzend Männer bestimmen die Richtung, in der sich diese Unternehmen entwickeln. Viel Macht in wenigen Händen und viele Abhängigkeiten untereinander. Aber warum ist das ein Problem? (…) Weil diese wenigen Menschen für Plattformen verantwortlich sind, auf die sich unsere Meinungsbildung zunehmend verlagert.

Björn Staschen, In der Social-Media-Falle, S. 91

Ich stimme Björn Staschen sehr zu, wenn er es höchst riskant und bedenklich findet, dass wir die Meinungsbildung in unserer demokratischen Gesellschaft über Kanäle organisieren, die in der Macht von Tech-Bossen wie Elon Musk, Peter Thiel, Marc Andreessen, Marc Zuckerberg oder auch Jeff Bezos liegen. 

„Denn in der Silicon-Valley-Mafia finden sich gleich mehrere Vertreter politischer Ansichten, die mindestens am Rand unseres Verständnisses von Demokratie liegen, wenn nicht jenseits davon.“

Björn Staschen, In der Social-Media-Falle, S. 101

Kritische „Komplizenschaft“ der Medien mit Tech-Giganten

Sehr überzeugend beschreibt er, der Journalist, gegen Ende seiner dunklen Analyse des Systems Social Media, wie seine eigene Zunft sich zunehmend in die Abhängigkeit der Plattformen manövriert. Um mehr Reichweite zu erzielen, gehorchten Medien den Gesetzen von TikTok und Co, ohne sie jedoch durchschauen zu können – und lieferten sich damit der vollkommenen Willkür der Betreiber der Kanäle aus. Die Folge dieser „Komplizenschaft“ des Journalismus mit den Plattformen sei ein großer Qualitätsverlust für die klassischen Medien, der die freie Meinungsbildung in Gefahr bringe. 

Was Björn Staschen hier nachzeichnet, ist keine Zukunftsvision, sondern beschreibt eine aktuelle Entwicklung: Medien verlieren ihr Publikum, immer mehr vor allem jungen Menschen nutzen die Social-Media-Kanäle als vorrangige Quellen zur Information. Wenn sie dort Inhalte von klassischen Medien vorfinden, fällt es ihnen schwer, sie von denen von Influencern und Content-Creators zu unterscheiden. Vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung wurde gerade eine Studie veröffentlicht, die unter anderem zeigt, dass immer mehr Menschen nicht mehr wissen, nach welchen Regeln Journalismus eigentlich funktioniert. 

Zum Glück endet das Buch nicht mit diesen dystopischen Beschreibungen, sondern mit einer Liste konstruktiver Vorschläge mit Ansätzen, die den Entwicklungen entgegenzusetzen wären. Zuerst erscheint da der Verweis auf alternative, dezentrale Plattformen wie Mastodon, einem Dienst des offenen Netzwerks Fediverse. Es folgt eine Liste von sehr konkreten, kreativen Vorschlägen, deren Umsetzung er jeweils sehr schön als „Grund zum Feiern“ einleitet:

  • Der Zusammenschluss öffentlicher Task Forces in öffentlichen und privaten Einrichtungen wie Schulen und Verlagen als Experimentierlabor für Alternativen 
  • Die Gründung von Digitalboards mit Bürger*innen und Politiker*innen, die gemeinsam „Leitplanken“ für die Digitalpolitik entwickeln könnten. 
  • Die finanzielle Förderung, das Sichtbarmachen alternativer Plattformen
  • Die bedeutend stärkere Förderung von Medienkompetenz in den Schulen
  • Die Beendigung von „Kooperationen“ mit den großen Tech-Unternehmen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft
  • Die stärkere Kontrolle der Plattformen
  • Mehr Einfluss für die Medienpolitik
  • Die Regulierung der Plattformen nach den Regeln des Mediensystems
  • Eine Einschränkung des Medienkonsums bei Kindern durch regulierende Apps (hier bin ich besonders skeptisch)
  • Ein Umbau der Öffentlich-Rechtlichen zu Zentren der alternativen Netzwerke
  • Werbefreiheit der Öffentlich-Rechtlichen zur Stärkung der privaten klassischen Medien
  • Mehr Vielfalt im Journalismus für mehr Akzeptanz bei einem zunehmend diversen Publikum
  • Die Entwicklung von Standards für personalisierte Medieninhalte, von denen alle Anbieter klassischer Medien profitieren
  • Der Ausbau der IT-Infrastruktur zur Gewährleistung der flächendeckenden Versorgung in Deutschland 

Ich höre bereits Einwände, die sicherlich berechtigt sein werden, warum die eine oder andere Idee uns nicht weiterbringen kann. Aber dass ein Teil seiner Ansätze vielleicht auch nicht funktionieren wird, nimmt Björn Staschen in Kauf – es seien „nur Ideen“. Sie könnten aber helfen, den Dialog nun endlich zu beginnen.

Begonnen hat der Austausch ja bereits – von netzpolitischen Aktivist*innen werden seit mehreren Jahren dezentrale, offene Strukturen zu den privat betriebenen Plattformen gefordert, zum Teil ja auch schon aufgebaut. Durch die Lektüre des Buches ist mir noch einmal deutlich geworden, wie sehr sich mit einigen Ausnahmen die Politik aus dem Diskurs heraushält, deren höchstes Anliegen es doch sein sollte, den skizzierten Entwicklungen etwas entgegenzusetzen. Stattdessen scheinen die Social-Media-Kanäle zur Verbreitung eigener politischen Inhalte immer noch unersetzbar. (vgl. mein Text zur Verbreitung der Rede von Robert Habeck über Medien und Social Media)

Warum bleiben wir alle?

In der Aneinanderreihung der bedenklichen Fakten und Entwicklungen ist die konsequente Frage: Warum sind wir eigentlich noch alle da? Und warum stärken die, die zentrale Akteure der demokratischen Gesellschaft sind, diese Plattformen weiterhin: politische Parteien, Ministerien, Mitglieder des Bundestags? Die Antworten sind klar: Weil sie Reichweite suchen. Weil alle da sind. Weil sie komfortabel in der Anwendung sind. 

Akzeptabel sind sie nicht. Dass die Medien selbst sich auch ihr eigenes Grab schaufeln, wenn sie ihre Inhalte auf den Plattformen teilen und Social-Media-Links in ihre Angebote einbauen, hat Björn Staschen überzeugend dargestellt.

Die Frage nach dem Verbleib stellt sich umso dringender, wenn man sich klarmacht: die Tech-Giganten mit ihren Plattformen sind eine sehr konkrete Bedrohung des Mediensystems, einer Säule unserer demokratischen Gesellschaft. Verbunden mit dem Erstarken einer Partei, die die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Programm hat, sollte uns das alle sehr beunruhigen. Es ist deshalb gut, dass dieses Buch erschienen ist, und den Finger erneut in die noch offene Wunde legt. Und ich finde es sehr richtig, dass Björn Staschen die Verantwortlichen auf politischer Ebene adressiert. Individuell ist das Problem nicht zu lösen. 

Björn Staschen: In der Social-Media-Falle. Wir wir unsere digitale Freiheit retten. Hirzel-Verlag, Stuttgart, 2023. Inhaltsverzeichnis

Terminhinweis

Beim nächsten Stammtisch Wissenschaftskommunikation am 23. November 2023 um 19:30 Uhr sprechen wir in einer Online-Diskussion mit Björn Staschen darüber, welche Konsequenzen Wissenschaftskommunikator*innen aus den aktuellen Entwicklungen ziehen. Die Teilnahme ist offen für alle, die im Bereich Wissenschaft aktiv sind. Die Veranstaltung organisieren wir im Team bei Mann beißt Hund – Agentur für Kommunikation.

Zum Weiterlesen

Die Historikerin Mareike König hat einen sehr guten Text darüber geschrieben, wie wir, wie vor allem auch Wissenschaftler*innen, die Social-Media-Kommunikation „nach Twitter“ neu oder wieder organisieren könnten. Der Titel spoilert: Bluesky ist für sie nicht die Lösung. Im Text zitiert sie den schönen Begriff „enshittification“ für den Sterbeprozess der Plattformen: „Bei der nächsten Social-Media-Plattform wird alles anders. Oder: Warum ich mich nicht bei Bluesky anmelde“, 13. November 2023.

„The ‘Enshittification’ of TikTok: Here is how platforms die: First, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.“ (Cory Doctorow, wired.com, 23.1.2023)

Ein weiterer, wie ich denke sehr wichtiger Lösungsansatz kommt von dem Netzexperten, Medien- und Kulturwissenschaftler Michael Seemann, der in seinem Beitrag schreibt: „Bluesky und Threads müssen endlich mit dem Fediverse föderieren und Threads in Europa verfügbar sein“.