Drei Wissenschaftler*innen waren Ende letzten Jahres Gegenstand von Hetze und Diffamierung der BILD-Zeitung geworden. Der Presserat hat die Beschwerden darüber nun abgelehnt. Warum das ein bedenkliches Zeichen ist.
Der Presserat hat letzte Woche nach Monaten entschieden, der Beschwerde von 94 Antragstellenden nicht nachzugehen und die Berichterstattung der BILD über drei Wissenschaftler*innen nicht zu rügen. Ende vergangenen Jahres hatte das Boulevardmedium in seiner Print-und Online-Ausgabe drei Wissenschaftler*innen als so genannte „Lockdown-Macher“ diffamiert. Zu sehen waren auf dem Titel Fotos der drei Wissenschaftler*innen Dirk Brockmann, Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann, montiert mit Weihnachtsgeschenken, dazu die Schlagzeile „Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest“.
Begründung des Presserats für die Ablehnung der Beschwerden
Die von der Redaktion vorgenommene Bezeichnung der drei Experten als „Lockdown-Macher” hat einen Tatsachenkern und verletzt deshalb nicht die journalistische Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex, stellte der Beschwerdeausschuss fest. Der Einfluss der genannten Wissenschaftler auf politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen lässt sich belegen. Die Bezeichnung „Die Lockdown-Macher“ ist daher eine zulässige Zuspitzung, die pointiert und streitbar sein mag, jedoch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
„BILD Artikel ist presseethisch zulässig, Begründung des Presserats vom 24.3.2022
Denkwürdig finde ich, dass es eine „Meinung“ darüber geben kann, in wessen Bereiche die Verantwortung für Lockdowns fällt, wo doch gesetzlich geregelt ist, wer die Entscheidungen trifft: Die zuständigen Politiker*innen in den Ländern sind dafür zuständig, hier bei Tagesschau wurde es Anfang letzten Jahres noch einmal gut für alle erklärt.
Der Unterschied zwischen beraten, machen und Entscheidungen treffen
Der Presserat hält es nun schon für ausreichend, dass die Wissenschaftler*innen die Politik in ihrer Entscheidung beeinflusst haben könnten. Es wäre sicherlich hilfreich gewesen, sich die Wortwahl dieser „Zuspitzung“ noch einmal genauer anzusehen: Das Wort „Macher“ in der BILD-Headline suggeriert doch eindeutig mehr als eine Beratung und ist damit falsch und irreführend. Dirk Brockmann sagte beispielsweise in einem Interview, dass er seine Aufgabe darin sehe, den Politiker*innen ein Bild der aktuellen Lage zu vermitteln. Die Entscheidungen müssten sie dann selbst treffen. Die Headline lässt also einen „Tatsachenkern“ eher vermissen. Man hätte durchaus mit journalistischer Sorgfaltspflicht argumentieren können, die die BILD verletzt hat. Hätten die, die den Aufmacher verantworten, sie ernst genommen, so hätten sie verhindert, dass in der Öffentlichkeit das falsche Bild entsteht, die Wissenschaft entscheide über die zu treffenden Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Der Presserat wertet die fahrlässige Wortwahl als „zulässige Zuspitzung“ – eine Argumentation, der ich nicht folgen kann.
Bedenkliche Argumentation
Nun lässt sich über Worte streiten und man könnte die Entscheidung wie auch die Begründung des Presserats angesichts der Folgenlosigkeit der Rügen des freiwilligen Organs der Selbstkontrolle der Presse (auch „zahnloser Tiger“ genannt) einfach mit einem Schulterzucken abtun. Zumal bei der BILD-Zeitung offenbar auch die an die 800 bereits ausgesprochenen Rügen der Vergangenheit niemanden jemals wirklich aus der Fassung gebracht haben.
Aber da ist dieser letzte Satz der Begründung des Presserats, den ich dann doch noch einmal bedenklich finde:
„Durch ihre Auftritte in den Medien während der Corona-Pandemie haben sich die Experten selbst in die Öffentlichkeit begeben und müssen es hinnehmen, auch persönlich kritisiert zu werden, wertete der Ausschuss.“
Begründung des Presserats
Das ist zum einen wieder sprachlich nicht richtig. Denn die Wissenschaftler sind ja nicht „kritisiert“ worden, weil sie etwa ihre Arbeit schlecht gemacht hätten. Sie sind Gegenstand einer inkorrekten Darstellung geworden – und das muss niemand hinnehmen.
Inakzeptabel ist aber vor allem der Zusatz „durch ihre Auftritte in den Medien während der Corona-Pandemie haben sich die Experten selbst in die Öffentlichkeit begeben“. Mit anderen Worten: Wer seinen Kopf heraushält, der muss auch damit leben, ist im Zweifelsfall gar selbst schuld, wenn draufgehauen wird. Und wer das wiederum nicht aushalten kann, der sollte eben lieber im Labor oder in der Bibliothek bleiben und sich auf die Forschung konzentrieren.
Die Pandemie hat nur zu deutlich gezeigt, wie wichtig der direkte Dialog der Wissenschaft mit verschiedenen Gruppen der Gesellschaft ist. Kommunikation war und ist eines der zentralen Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie, immer noch unterschätzt, wie ich denke. Sie nimmt zwar in der Wissenschaft eine wachsend wichtige Rolle ein, gehört aber noch immer nicht zur Ausbildung, geschweige denn zum Stellenprofil von Wissenschaftler*innen. Wer sich hier um den Austausch, die Vermittlung und den Dialog bemüht, macht das in der Regel aus eigener Überzeugung und aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus. Es gibt gar nicht zu viele Wissenschaftler*innen, die für diesen Dialog die notwendigen kommunikativen Kompetenzen mitbringen. Die Pandemie hat hervorragende Kommunikator*innen hervorgebracht.
Es gehört grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Wissenschaftler*innen, zu kommunizieren, deshalb seien sie auch zu schützen – außer, wenn sie selbst die Öffentlichkeit suchten. So ähnlich hatte auch BILD-Chefredakteur Johannes Boie argumentiert, als es Anfang dieses Jahres in einer Diskussionsveranstaltung zu einer Aussprache des Mediums mit zweien der betroffenen Wissenschaftler*innen und mit Vertretern der Wissenschaftsorganisationen kam. (Die Live-Veranstaltung war öffentlich, wurde aber nicht online gestellt, deshalb hier nur ein Zitat aus dem Gedächtnis).
Die Gesellschaft braucht kommunizierende Wissenschaftler*innen
Das Gegenteil ist aber richtig: Wissenschaftler*innen, die sich im Dialog mit der Gesellschaft engagieren, brauchen unseren besonderen Schutz. Sie profitieren von ihrem Engagement in der Regel nicht für ihre Karriere – im Gegenteil. Sie opfern Zeit, die Kolleg*innen lieber in ihre Forschungsaktivitäten, wissenschaftlichen Publikationen oder in die Akquise von Forschungsgeldern investieren. Und sie riskieren – insbesondere bei emotional aufgeladenen Themen wie der Pandemie – Gegenstand von Hetze und Verleumdungen zu werden, so geschehen bei den drei Forscher*innen, die die BILD sich herausgepickt hatte.
Wir als Gesellschaft brauchen Wissenschaftler*innen wie Viola Priesemann, Michael Meyer-Hermann, Dirk Brockmann und die vielen anderen, die herausgehen an die Öffentlichkeit. Der Presserat hat sie mit seinem Kodex und der Rechtsprechung nicht vor Falschdarstellung und Diffamierung schützen können. Umso wichtiger, dass andere Stimmen der Gesellschaft sich für sie stark machen.
Der Herr heißt Dirk Brockmann.
Vielen Dank für den Hinweis, oben im Text war es ja richtig, nun ist auch unten der Vorname korrigiert.