17.1., aktueller Terminhinweis: Am Dienstag, den 7.2., 18.30 Uhr, moderiere ich eine Lesung mit Gespräch mit Jan Kalbitzer in den Hamburger Bücherhallen in der Zentralbibliothek. Es wird sicher auch um die Experimente im Buch gehen, von denen ich inzwischen erste getestet habe. Die Veranstaltung ist für alle offen.
„Kein Arzt, kein Wissenschaftler kann derzeit eine seriöse Aussage darüber treffen, wie das Leben mit den digitalen Medien uns beeinflusst“.
Mit dieser Aussage zitieren Kerstin Kullmann und Hilmar Schmundt den Psychiater Jan Kalbitzer im SPIEGEL-Interview (Print- Ausgabe 38/2016). Die Studien seien zu undifferenziert, sagt der Wissenschaftler, und man müsse zuerst fragen, was die Menschen im Internet machten, bevor man bewerte, dass sie zu viel Zeit darin verbrächten. Psychiater, so seine Einschätzung, hätten in der „großen, gesellschaftlichen Debatte, wie wir gemeinsam leben möchten (…) kein Anrecht auf Expertenstatus.“
Es waren diese Sätze, die mich neugierig auf das Buch gemacht haben, weil sie sich auf angenehm differenzierte Art von dem abheben, was in letzter Zeit so oft zu hören ist, wenn Mediziner, Psychologen oder Psychiater uns vor den negativen Auswirkungen des Internets warnen. Die sich daraus entwickelnde Haltung in unserer Gesellschaft ist das, was Kalbitzer als „digitale Paranoia“ bezeichnet: das übermäßige Misstrauen gegenüber dem Internet.
Es ist überfällig, dass sich endlich einmal ein Psychiater zu der vermeintlichen Internetsucht äußert, die in letzter Zeit populistisch durch die Medien getragen wird. So war zum Beispiel im letzten Jahr in bundesweit von einer Studie zu lesen, in der ein Hamburger Wissenschaftler Alarm schlug: „Fünf Prozent aller Kinder sind internetsüchtig“, behauptet er. Die Zahlen basierten auf einer repräsentativen Befragung von 1000 Eltern!
Kalbitzer geht hart ins Gericht mit diesen Experten, die umso vehementer vor dem Internet warnen, je weniger sie davon wissen. Anders als viele seiner Kolleg*innen sieht er, dass Angstmache zu keiner Lösung führt. Stattdessen plädiert er dafür, unser Verhalten im Netz zu beobachten, zu verstehen, als Folge davon vielleicht auch zu ändern. Als Psychiater gehört Kalbitzer mit seiner Sicht auf das Netz zu den Ausnahmen seiner Zunft, keineswegs aber zu den Netz-Euphorikern. Er verschweigt nicht, dass auch er Anlass zur Sorge sieht, weil die grundsätzlich positiven Potenziale des Netzes eben „Nebenwirkungen“ zeigten – unter anderem den Verlust der Privatsphäre und der Kontrolle über unsere Daten. Mit seinem Buch möchte er verhindern, dass aus diesen Nebenwirkungen irrationale Ängste entstehen.
Mit einem psychiatrischen Blick auf die Welt des Digitalen will ich unserer digitalen Paranoia, unserem irrationalen Verhältnis zur Technik Internet, die Möglichkeit eines reflektierten Umgangs gegenüberstellen. (S.17)
Zwölf Experimente schlägt Kalbitzer vor, die uns genau zu diesem reflektierten Umgang führen sollen. Hier fand ich das Buch schwach: Sie haben mich nicht wirklich überzeugt. Vielleicht gehöre ich nicht zur Zielgruppe. Ich halte allerdings auch einige Hoffnungen, die Kalbitzer mit diesen Versuchsanleitungen verbindet, für unrealistisch. So ist ein eigenes Netzwerk über ein Open-Source-Angebot aufzubauen keine wirkliche Alternative zu Facebook, wenn Menschen dort einen wichtigen Raum für Information und Austausch gefunden haben, den sie vielleicht auch beruflich nutzen. In einem anderen Experiment will Kalbitzer Verschwörungstheoretiker durch Befreiung aus ihrer Filterblase und ein offenes, zugewandtes Gespräch „in die aufgeklärte demokratische Gesellschaft“ integrieren. Verschwörungstheoretiker sind aber nicht erst als Opfer der Filterblase auf ihre absurden Ideen gekommen – sie haben hier nur gute Möglichkeiten gefunden, sie zu verbreiten.
Die Experimente überzeugen mich auch deshalb nicht, weil in den Anleitungen immer wieder ein Dualismus von Realität und virtueller Welt zu Grunde gelegt wird. Der Kulturwissenschaftler Philippe Wampfler hat in einem Blogbeitrag einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, warum das nicht weiter führt: „Wir können ‚das Reale’ nicht länger als Gegensatz zu „Online“ denken, zitiert er. Beides bedinge sich gegenseitig. Kalbitzer jedoch bestärkt diesen Gegensatz: Die Umgangsformen, an die wir uns im realen Leben hielten, seien über Jahrtausende kultiviert. Im Netz dagegen seien diese Umgangsformen nur rudimentär existent, und man müsse „Rituale und Übereinkünfte wieder etwas mehr der Realität außerhalb des Internets annähern“. Das ist aus der Sicht und Lebenswelt eines kultivierten Menschen gedacht. Es gibt aber natürlich auch Rituale und Übereinkünfte im realen Leben, zu beobachten etwa bei Volksfesten und manchmal auch bei Fußballspielen, von denen man sich nur wünschen kann, dass man ihnen im Netz nicht auch noch begegnen muss. Und vieles, was uns im Internet irritiert, ist eigentlich nur ein Abbild dessen, was auch im realen Leben passiert – hier aber sichtbar wird.
Abgesehen davon beschreibt Kalbitzer sehr gut die Umbruchsituation, in der wir uns bewegen: Viele Fragen sind noch nicht geklärt, wenn es darum geht, wie wir mit dem Internet leben wollen.
In der Tat sind wir von den Veränderungen, die die Digitalisierung in den letzten 20 Jahren ausgelöst hat, quasi überrollt worden. Um einen Umgang damit zu finden, müssen wir uns im Netz selbst beobachten und anderen zusehen, wir müssen experimentieren. Wir müssen vor allem auch eine Diskussion über Grundwerte führen und uns gemeinsam fragen, wie wir diese in einer Gesellschaft gewährleisten wollen, in der das Netz neue Bedingungen für die Kommunikation und unser Zusammenleben geschaffen hat.
Kalbitzer beschreibt, wie das Internet Grenzen auflöst, die uns in der Vergangenheit eine Stütze und Orientierung gegeben haben. Diese neue Grenzenlosigkeit bietet einerseits die Möglichkeit, auf alles von überall jederzeit Zugriff zu haben. Andererseits fordert genau das ein hohes Maß an Selbstregulation, die nicht jeder aus eigener Kraft aufbringen kann oder – wie Kinder – dabei zumindest intensive Begleitung braucht. Kalbitzers Hinweise an Eltern sind gut und greifen das auf, was die besseren pädagogischen Ratgeber empfehlen: Die Kinder begleiten, mitmachen, sich informieren, was sie fasziniert.
Es gibt aber auch Situationen, in denen Einzelne die notwendigen Grenzen nicht mehr alleine setzen können – hier sind wir als Gemeinschaft gefragt, auch darauf verweist Kalbitzer in einer grundsätzlich optimistischen Haltung. Der Schutz vor Hatespeech etwa ist eine Herausforderung, mit der Betroffene ab einem gewissen Punkt überfordert sind. Sehr eindrucksvoll hat das kürzlich Anne Matuschek in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche beschrieben. Sie hatte sich nach heftigen Anfeindungen und Bedrohungen von der Plattform Twitter zurückgezogen. Um Einzelne zu schützen, sind auch die Betreiber von Plattformen dafür verantwortlich, die Grenzen zu setzen und dafür zu sorgen, dass sich Menschen frei und ohne Angst in den Netzwerken bewegen können.
Ob das Buch wirklich helfen kann, eine vermeintliche digitale Paranoia zu überwinden, vermag ich nicht zu sagen. Viele Fragen, die wohl auch in der Forschung noch eine Rolle spielen werden, bleiben offen, und sicher müssen die Diskussionen darüber, wie wir im und mit dem Netz leben wollen, fortgesetzt und in weiteren Dimensionen geführt werden. Kalbitzer, der am Institut für Internet und seelische Gesundheit in Berlin an der Charité forscht, lädt dazu explizit ein: Er beschreibt sein Buch als „Essenz der spannenden Anfangszeit dieses Projekts“, das er im Netzwerk mit ganz unterschiedlichen Menschen betreibt – vor allem aber auch als Einladung an seine Leser*innen, sich an der Diskussion zu beteiligen.
„Digitale Paranoia – Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren“ von Jan Kalbitzer, C. H. Beck, München, 208 Seiten, 16,95 Euro. Auf der Verlagsseite gibt es eine Leseprobe.
Weitere Rezensionen:
- Spiegel Online, 19.9.2016: „Digitale Paranoia“ von Jan Kalbitzer: Warum uns das Internet Angst einjagt. Von Angela Gruber
- FAS, 9.9.2016: Digitaler Stress. Wir finden kaum inneren Abstand. Von Karen Krüger
Eine gute Zusammenfassung der Gedanken aus dem Buch auch im Interview mit Jan Kalbitzer bei WDR 5 aus der Reihe „Neugier genügt – Freifläche“ (29.6.2016)
Lieber Herr Kalbitzer, herzlichen Dank für den sehr ausführlichen Kommentar – jetzt verstehe ich den Tweet auf jeden Fall besser. Die Anschaffung des Buches hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt – allerdings hat es vielleicht andere Gedanken ausgelöst als die, die Sie beabsichtigt haben. So habe ich mich unter anderem in der Kritik auch noch einmal intensiv in meiner eigenen Haltung und auch Nutzung hinterfragt.
Was die Experimente betrifft: Sie haben Recht, wenn Sie schreiben, dass man sie nicht wirklich kritisieren kann, solange man sie nicht ausprobiert hat. Die Herausforderung nehme ich an. Der Umzug zu einem anderen Messenger ist aber ein gutes Beispiel, warum einige Experimente einfach nicht funktionieren werden: Ich nutze keinen. Mit meinen Freunden kommuniziere ich eigentlich immer noch vorrangig über das Telefon oder per Mail. WhatsApp habe ich längere Zeit angesehen, aber wieder gelöscht, als die AGB geändert wurden. Das fiel mir relativ leicht, weil ich in keiner Gruppe war und den Messenger nur sporadisch genutzt habe. Meinen Twitteraccount, der ja einen Messenger umfasst, würde ich aber trotz der AGB nicht löschen. Und zwar nicht, weil die weniger bedenklich wären. Ich bin einfach davon überzeugt, dass ich meine Daten nicht wirklich schützen kann, weil ich gar nicht weiß, an welchen Stellen Daten von mir erhoben werden. Ich würde also einen Schaden in Kauf nehmen, indem ich mich von einem Netzwerk abschneide, das mir wichtige Informationen und Austausch liefert, ohne sicher sein zu können, dass ich dadurch etwas gewinne. Denn selbst wenn es mir gelänge, alle meine Freunde davon zu überzeugen, mir zu folgen, so würde damit Twitter kaum untergehen. Und ich möchte mich ja nicht nur mit meinen Freunden austauschen – dazu brauche ich Twitter oder WhatsApp eigentlich gar nicht.
Da ich auf Twitter geblieben bin, habe ich neulich von der Idee gelesen, den Dienst von einer Genossenschaft der Nutzer kaufen zu lassen. Es gehen ja Gerüchte, dass Twitter übernommen werden soll. Das wären für mich viel spannendere Ansatzpunkte, als mich zurückzuziehen.
Zu den Umgangsformen: Da haben Sie meine dezente Provokation missverstanden. Ich glaube natürlich nicht, dass sie ein Privileg von Bildungsbürgern sind. Aber wenn Sie tatsächlich meinen, dass sich unser Umgang miteinander im Netz verbessern würde, wenn wir, wie Sie schreiben, „uns wieder etwas mehr der Realität außerhalb des Internets annähern“, dann haben Sie vielleicht noch niemals nach einem Fußballspiel im Regionalzug gesessen. Es gibt, im Netz wie im realen Leben, Orte, an denen man sich sehr viele Gedanken darüber macht, wie man miteinander umgeht. Und es gibt Menschen, die das einfach ignorieren. Im Netz vielleicht noch öfter als im realen Leben, weil die face-to-face Begegnung doch noch einige Hemmschwellen aufbaut – aber eben auch nicht immer.
Ich kann mir gut vorstellen, dass andere Menschen Gewinn aus Ihren Experimenten ziehen, ich hatte es ja geschrieben: ich bin da vielleicht einfach nicht die Zielgruppe. Sie sollten dazu auffordern, über die Ergebnisse zu berichten und eine Plattform dazu anbieten, zum Beispiel ein Tumblr-Blog. Und: Die Einladung zum Herumexperimentieren ist doch nicht ausschließlich an Ihre Experimente gebunden – warum eröffnen Sie nicht einfach die Diskussion, welche anderen Ihre Leser*innen für sinnvoll halten könnten?
Beste Grüße, Nicola Wessinghage
Liebe Frau Wessinghage,
Danke, dass Sie das Buch gelesen und so ausführlich besprochen haben. Ich erkenne drei wichtige Punkte aus anderen Diskussionen wieder und nutze die Gelegenheit, darauf zu antworten.
Vorweg noch ein paar Worte zum Buch insgesamt: ich finde rückblickend, wenn ich es jetzt so als fertiges Buch in der Hand habe und lese, dass es die Turbulenz meiner Begegnung mit dem Thema zu sehr widerspiegelt, zu unruhig ist. Manchmal hatte ich ein Kapitel fertig und schon wieder so viel Neues gelernt, dass ich das Kapitel davor gleich wieder neu schreiben musste. Den Fehler zumindest mache ich beim nächsten Buch nicht. Ich glaube diese Unruhe trägt auch zu der unten beschriebenen Schwäche, Motivation zu einer Lebensänderung zu erzeugen (oder alternativ Akzeptanz dessen, was man ohnehin tut), bei. Und das erklärt auch, dass immer mal wieder das duale Denken auftaucht – das musste ich selbst im Rahmen des Buchprojekts erst überwinden (großer Dank hierfür auch an Kathrin Passig, die viel und geduldig mit mir über „das Internet“ diskutiert hat). Ich mag an der Psychiatrie und der Psychotherapie (und natürlich vielen anderen „Beratern“) oft nicht, dass sie die Schuld beim Patienten verorten, wenn eine Therapie „nicht gut anschlägt“. Man spricht dann von „mangelnder Compliance“ (= „Patient macht nicht richtig mit“) bzw. fehlender Motivation als Grund für das Scheitern. Mindestens teilweise liegt es aber oft einfach am Therapeuten oder an der Therapie. Für Sachbücher würde ich das ähnlich beurteilen: wenn sie nicht richtig funktionieren, dann liegt das nicht unbedingt am Leser.
Aber ich glaube auch nicht, dass es nur an den Experimenten liegt. Sie und auch Frau Gruber von SPON haben in den beiden bisher einzigen Rezensionen genau bei den Experimenten die Schwäche des Buchs ausgemacht. Und damit kommen wir zu den drei Punkten:
1. Schön, dass ein Psychiater mal kein Angst-Warn-Buch über das Internet schreibt!
– Danke! Das war die wesentliche Motivation. Mir tut allerdings leid, dass es für seinen Preis nicht mehr für Sie tun kann. Für mich ist das Buch unabhängig vom Verkauf ein Gewinn, weil ich vor allem diskutieren will. Aber ich hatte gerade mit den Experimenten gehofft, auch einen Mehrwert für die Leser zu schaffen, der über bloßes thematisches Schenkobjekt oder sichtbares Bücherwand-Bekenntnis hinausgeht.
2. Die Experimente sind zu schwach auf der Brust!
– Das haben Sie und auch Frau Gruber angemerkt. Richtig ist, dass ich als Wissenschaftler, Therapeut und Buchautor offenbar genau daran scheitere, die Motivation schon zum Ausprobieren zu vermitteln. Ich habe das ja alles selbst ausprobiert und auch andere probieren lassen und die Effekte waren eigentlich immer recht eindrucksvoll. Machen Sie doch mal eine „Themenwoche AGBs“, in der Sie sich intensiv mit den AGBs der Angebote, die Sie nutzen, befassen (wenn Sie Twitter sehr gern nutzen, dann beschäftigen Sie sich doch mal mit den Werbeangeboten auf Twitter und den Daten, die Twitter weit über die angegebenen hinaus hat – das finden Sie z.B. in dem F-Secure Video von der re:publica 2015: https://www.youtube.com/watch?v=pbF0sVdOjRw – starten Sie z.B. bei Minute 11:50). Ich glaube kaum, dass Sie dann nichts ändern bzw. sich alternativ nicht aktiv entscheiden, nicht weiter darüber nachzudenken. Und raffen Sie sich mal mit Ihren Freunden zusammen auf, auf einen – in Bezug auf die Privatsphäre – besseren Messenger umzusteigen. Wenn Sie das schaffen, dann bleibt es nicht bei einem, glauben Sie mir.
Das Problem scheint viel eher, dass nur die Wenigsten durch das Lesen des Buchs zur wirklichen Durchführung der Experimente motiviert werden. Und das meine ich mit der Volkszählung in meiner Kurzantwort auf Twitter: die Emotionen, die zur Entwicklung einer Änderungsmotivation führen, brauchen Zeit. Das Überfliegen von AGBs (oder den Experimenten im Buch) reicht da nicht, Sie müssen dem Thema, damit es Sie bewegt, auch den nötigen Raum lassen. Deshalb hat der Versuch der Volkszählung damals auch für soviel Aufruhr gesorgt: es war einfach lange und intensiv genug Thema. Wenn das Buch dazu nicht motivieren kann, dann hat das Buch hier seine wirklich große Schwäche.
3. „Analoge“ Umgangsformen, Hass im Internet!
– Nein, allein kann man das Problem mit dem Hass nicht lösen. Und dass er einen solchen Raum gerade auf kommerziellen Plattformen gefunden hat, ist nicht zu dulden. Aber ich versuche zumindest auf der individuellen Ebene, Vorschläge zu machen, wie man einen Ansatz finden kann. Genau Sie und ich können Einfluss nehmen auf unser Umfeld und entweder direkt oder zusammen mit anderen auf Konzerne und auf Politik. Und auf unsere Gesellschaft. Und genau da verschätzen Sie sich, glaube ich, ähnlich wie meine Schwiegermutter: gute Umgangsformen sind kein Privileg der bürgerlichen oder „kultivierten“ Menschen. Das Experiment mit den Umgangsformen hatte die eindrucksvollsten Ergebnisse gerade bei nicht-Akademikern (Verwaltungsmitarbeitern, Sachbearbeitern, Mechanikern) mit denen ich vorher wirklich (gegenseitig) unangenehme bspw. Emailwechsel hatte.
Dass diejenigen, die dem öffentlichen Hass im Netz (von allen möglichen Seiten) ausgesetzt sind (z.B. insbesondere Journalisten und Politiker – aber auch viele Einzelpersonen), besser geschützt werden müssen, steht außer Frage. Auch aus psychiatrischer Sicht. Aber bei diesem Thema ist ein Buch in diesem Format nicht der richtige Ansatzpunkt. Das muss man den Entscheidungsträgern – auch von psychiatrischer Seite – direkt sagen und den ernsthaft Betroffenen in einer richtigen Beratung helfen. Eine Anleitung zum Selbst-Lösen im Buch hätte für mich zu sehr den Beigeschmack von „das ist Dein Problem, Du kannst es so und so lösen…“ gehabt. Das wird der Tragweite meines Erachtens nicht gerecht. Aber Sie sind nicht die Einzige, die mir rückmeldet, dass wir hier schnell etwas ändern müssen.
Alles in allem sollte das Buch zum angstfreieren Rumexperimentieren und Reflektieren einladen. Aber vielleicht gewinnt diese Einladung ja noch an Kraft – in der Diskussion im Internet und an all den Orten, an die ich eingeladen werde. Gerade für kleine unabhängige Buchläden und öffentliche Bildungseinrichtungen komme ich gerne weiter honorarfrei vorbei, solange es die Zeit zulässt.
Herzliche Grüße,
Ihr Jan Kalbitzer