#Monatsnotiz:  Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.

Fußball

Mit vielen Veranstaltungen und Reisen war dieser September ein inspirierender, aber auch anstrengender Monat. Ausgleich habe ich auf dem Fußballplatz gefunden – für mich eine absolut neue und auch überraschende Erfahrung. Seit meiner frühen Kindheit hat es mich eher gelangweilt, bei Spielen zuzusehen, bis heute kann ich Fußball im Fernsehen wenig bis gar nichts abgewinnen. Dass ich manchmal mitreden kann, hat damit zu tun, dass ich zeitlebens von fußballbegeisterten Menschen umgeben war und bin.

Ich selbst fand bislang nur die Spiele meiner eigenen Kinder sehenswert. Richtig gepackt hat es mich aber erstmals in diesem September. Ich habe selten in diesen vier Wochen alles um mich herum so vergessen können wie auf der Bank mit den anderen Eltern und Freunden der Mannschaft. Die Tiefen, Höhen und Wendungen des Spiels haben mich mitgerissen, ich fühlte mich anschließend wie nach einem guten Film im Kino. 

Aus dieser neuen Erfahrung heraus habe ich auch mein erstes Buch über Fußball gelesen, von Martina Keller, Anfang des Jahres erschienen. Es wurde vom Verlag als „Sachbuch zur Fußball-EM der Frauen 2022“ vermarktet: „Ran ans Leder. Bekenntnisse einer Fußballverrückten“. Ich kenne Martina und hatte mit ihr schon das eine oder andere Mal über ihre Leidenschaft und ihren Verein, den BVB, gesprochen. Ihre Fußball-Liebe nahm ihren Anfang, als sie ein kleines Mädchen war, mit sechs. Sie nimmt inzwischen so extreme Züge an, dass sich Martina zwischendurch ernsthaft immer wieder Gedanken darüber macht, wie gesund und gut das alles noch ist. Mit über 60 Jahren spielt sie noch immer im Team mit anderen Frauen, die ihre Töchter oder auch Enkelinnen sein können.

Dass Frauen im Fußball aktiv sind, ist heute ganz selbstverständlich, von Gleichberechtigung kann aber auch in diesem Bereich noch nicht die Rede sein. Im Deutschen Fußballbund ist gerade mal eine Frau im fünfzehnköpfigen Präsidium vertreten. Das ist nur eine von weiteren negativen Seiten dieses Sports, die Martina im Buch nicht auslässt, die ihre Begeisterung aber nicht wirklich schmälern können.

Als Martina aufwuchs, war sie eine Ausnahmeerscheinung, Mädchen spielten kein Fußball. Sie musste sich überall erst einmal bewähren. Statt bestärkt oder gefördert worden zu sein, hatte sie mit Widerständen zu kämpfen. Um so mehr hat es mich beeindruckt, wie hartnäckig sie sich immer wieder durchgesetzt hat, wie konsequent sie ihre Leidenschaft verfolgt, als Fan wie als Spielerin. Parallel zu ihrer “Fußballkarriere” beschreibt Martina ihre berufliche Entwicklung als Wissenschaftsjournalistin, die für ihre investigativen Recherchen ausgezeichnet worden ist. Es ist sicher kein Zufall, dass es da Parallelen gibt. Hier gibt es eine Leseprobe zum Buch, in der ARD ist ein Feature von Martina über ihre Fußball-Liebe zu hören (2020).

Fußball kann Schutzraum sein, Nische, Feld der Begegnung, des Ausprobierens. Weil es nicht viel braucht, um zu kicken, ist das überall auf der Welt möglich.

Martina Keller, „Ran ans Leder“.

Unselfing – ein Manifest

Über den empfehlenswerten Newsletter der Schweizer Designerin Tina Roth Eisenberg („swissmiss“) bin ich auf einen Text gestoßen, den ich interessant fand, wenn ich ihm auch in der Analyse nicht unbedingt zustimme. Randnotiz zum Newsletter: Tina sammelt schönes Design, kurze Zitate, Videos, Texte – sehr kurz, knapp, und oft bemerkenswert. Ich schaue da immer wieder gerne hinein.

In der Ausgabe vom 13. September empfiehlt Tina das „Unselfing“-Manifest der Publizistin Maria Popova, deren Online-Plattform „The Marginalian“ für mich eine weitere Entdeckung war. Um kurz noch eine weitere Schleife zu ziehen, bevor ich zum eigentlichen Text komme: The Marginalian entstand in einer Werbeagentur aus einem E-Mail-Newsletter. Popova war davon überzeugt, dass Kreativität durch Informationen und Inspirationen aus anderen Branchen angeregt wird, und verschickte regelmäßig entsprechende Informationen an ihre Mitarbeitenden. Ihre daraus entstandene Plattform beschreibt sie als: 

Aufzeichnung meines eigenen Werdens als Person – intellektuell, kreativ, spirituell, poetisch –, die aus meinen ausgedehnten Marginalien auf der Suche nach Sinn in der Literatur, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und den verschiedenen anderen Tentakeln des menschlichen Denkens und Fühlens entstanden ist“.

Maria Popova, zitiert nach Wikipedia

Ich habe angefangen, darin zu stöbern, und kann das nur weiterempfehlen.

Zurück zum Text, das „Unselfing-Manifest“ von Maria Popova, das Tina „swissmiss“ in ihrem Newsletter empfiehlt. Maria ruft darin dazu auf, weniger die eigenen Leistungen und Erfolge und mehr die anderer in den sozialen Netzwerken zu teilen, ausgehend von ihrer Analyse, wir lebten in einer „Pandemie des Selfing“:

We are living through a pandemic of selfing — rampant self-celebration that mistakes applause for connection, likes for love. There must be another way — a way to unself just enough to remember each other, to grow a little more…

unselfing.social

Maria Popova empfiehlt zur Verbesserung, einen Monat lang bei jedem dritten Post egal auf welchem Kanal auf das Werk, die Ideen, Arbeiten anderer hinzuweisen – und sich dabei bewusst zu werden, dass es die eigene Person bereichert. 

Das glaube ich sofort und finde es aber gar nicht nur „unselfish“ zu teilen. Denn auch der Hinweis auf die Arbeiten anderer sagt wieder viel über die Menschen aus, die sie bewusst ausgewählt haben und öffentlich verbreiten. In jedem Unselfing steckt also gewissermaßen auch ein Selfie…

Ich glaube auch, dass alleine der Weg, der mich zu diesem Manifest geführt hat, den Gegenbeweis zur „pandemic of selfing“ darstellt. Meine sozialen Netzwerke sind voll von Verweisen auf die Texte, Arbeiten, Bücher, Filme, Podcasts anderer – und dafür liebe ich sie. Ich bin aber an dem Wort „unselfing“ auch hängengeblieben. Maria Popova hat den Begriff von der Philosophin Iris Murdoch übernommen und bei The Marginalian einen Text darüber geschrieben, den ich viel interessanter und tiefgründiger fand als ihr Manifest. Auf jeden Fall werde ich ihn noch ein oder zweimal lesen.

Podcasts

Im September habe ich den „Kontext“-Podcast von SRF 2 Kultur entdeckt – bzw. zunächst die wunderbare Folge, in der es um das neue Buch von Edouard Louis geht. Edouard Louis ist Schüler des Soziologen und Journalisten Didier Eribon und beschreibt wie dieser in seinem aktuellen Buch „Anleitung, ein anderer zu werden“ genau wie in den früheren Werken seinen „Aufstieg“ aus einfachen, prekären Verhältnissen in die Gemeinschaft der französischen linken Intellektuellen. Wunderbar fand ich die Folge auch deshalb, weil Edouard Louis dort immer wieder im Original zu hören ist und mir wieder einmal bewusst geworden ist, wie schön ich diese Sprache finde.

Lange vor Eribon und Louis hat die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ihre Herkunft zum Thema ihrer Bücher gemacht. Ich greife in den Oktober vor: Annie Ernaux erhielt am 6.10. den Literaturnobelpreis. Wie viele habe ich mich sehr darüber gefreut. Im Kontext-Podcast ist anlässlich des Preises ein Porträt und ein Gespräch über die Autorin mit der Literaturkritikerin Iris Radisch zu hören. 

Es gab eine Sternstunde Philosophie mit dem belarussischen Publizisten Evgeny Morotzov. Der kritisiert seit über zehn Jahren die Übermacht der Tech-Giganten Google, Facebook und Co und fordert eine Rückgabe der Daten an die Bürger*innen. Ich habe leider noch nie ein Buch von Morozov gelesen. In dem Gespräch wird seine grundsätzliche Position gut deutlich. Er sieht die Verantwortung für die Organisation unserer Kommunikation in öffentlichen Händen. Die aktuellen Schattenseiten von Social Media seien keine Luxusproblem der Einzelnen. Sie resultierten aus den Versäumnissen der öffentlichen Hand, die in der Bereitstellung einer notwendigen kommunikativen Infrastruktur gescheitert sei. Es sei falsch, dass diese zentrale Infrastruktur nun in den Händen gewinnorientierter Unternehmen liege.

Morozov bringt selbst den personalisierbaren Newsletter „The Syllabus“ heraus, in dem er und weitere rund 50 „Cyberflâneurs“ Texte, Videos, Podcasts aus der digitalen Sphäre kuratieren – in einer Verbindung aus KI und menschlicher Beurteilung. Er mache das, sagt er, um die öffentlichen Institutionen zu beschämen, denn:

Es ist ihre Aufgabe, zu kuratieren, zu finden und zu informieren. Deshalb haben wir die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten, die Museen und Bibliotheken gegründet.

Evgeny Morozov, Sternstunde Philosophie, 25. September 2022

Im Elementarfragen-Podcast gibt es ein schönes Gespräch mit Dirk Brockmann, dem Komplexitätsforscher, über den ich hier schon mehrmals berichtet habe. Wer sein Buch noch nicht gelesen hat (was ich sehr empfehle, die Gedanken und Erklärungen zur Komplexität begleiten mich weiter bis heute), kann aus dem Gespräch mit Nicolas Semak mit Sicherheit einiges mitnehmen. Es war auch für mich erneut Gedanken-inspirierend, den beiden zuzuhören.

Ich habe einen neuen Musikpodcast entdeckt: In „Disposition“ spricht der Journalist, Musiker und Gründer des Independent-Lables „staatsakt“, Maurice Summen, mit anderen Musiker*innen über ihre aktuellen Veröffentlichungen, über Musik im Allgemeinen, Labels, die Entwicklungen im Musikmarkt – und über die Vermarktung der Musik in 2022. „Ein Interview-Format für Menschen, die sich kulturell gern in Nischen bewegen“ heißt es in der Podcast-Beschreibung. Jan Müller von Tocotronic, Peter Licht und den Journalisten Jens Balzer würde ich als Gäste jetzt gar nicht so sehr in der Nische sehen.

Eine kleine Entdeckung habe ich über den Podcast machen können: den Musiker Johannes Stankowski alias „Gio“. Interessiert hatte mich die Folge zunächst, weil unter anderem „Musik auf TikTok“ Thema war – neben der Frage, warum es bei „Gio“ mit dem Aufstieg zum Star noch nicht so ganz geklappt hat. Nach dem Hören ahnt man, dass es auch mit der eher distanziert-beobachtenden Haltung gegenüber den Social-Media-Kanälen zu tun haben könnte („Ich war noch nie auf diesem TikTok, ich schwöre bei Gott“). Immerhin habe ich nun „Gio“ über diesen Podcast entdeckt. Leider konnte ich auch nicht zum Durchbruch verhelfen, glaube aber, dass der gelingen könnte, wenn nur der oder die Richtige mal auf ihn stoßen würde.

Momentaufnahmen bei „BeReal“ und „TikTok Now“

Ich habe mich im August oder September bei der neuen App BeReal angemeldet, die jetzt schon einen Klon bei TikTok hat. Unselfing ist dort nicht so ganz einfach, weil jedes Posting ein Selfie enthält. Definitiv nicht meine Plattform bis jetzt, aber ich experimentiere etwas herum und freue mich über die Momente, die meine zwei Freund*innen dort mit mir teilen, Gruß geht raus an Alex und Franziska. Wer mehr über die Apps erfahren will: Annina hat bei Mann beißt Hund im Blog geschrieben, ob die Momentaufnahmen nur Hype sind oder ein neuer Trend daraus entstehen könnte.

Instagram

Der Filmkünstler Aike Stuart @aaikestuart hat ein Instagram-Format entwickelt, das ich immer wieder ansehen mag, so etwas wie die Monatsnotiz in schnellen Bildern: Am Ende jedes Monats zeigt er einen Film, geschnitten aus „one second every day“ – schöne, lustige, emotionale und alltägliche Bilder und Szenen. Nachahmenswert.

Musik

Natürlich von Gio. „Ganz unironisch“ bezeichnet Johannes Stankowoski das, was er da macht. Und es ist auch zu gut dafür, um nur Parodie zu sein, man sieht und hört, wie viel qualitativ hochwertige Arbeit darin steckt. Ich bin auf eine Art beeindruckt davon, auch wenn es gar nicht so meine Musik ist.

Gil hat italienische Wurzeln, ein paar seiner Songs singt er auf Italienisch: