Viele Jahre hatte die Journalistin Katharina Thoms das Leben ihrer Mutter für wenig spektakulär, geschweige denn für erzählenswert gehalten: „Normal. Durchschnitt. Nicht besonders aufregend.“ Bis sie in ihrer neuen Heimat im Südwesten Deutschlands feststellte, dass die meisten Mütter dort ganz anders waren. Nicht so wie sie ihre Mutter in der ehemaligen DDR erlebt hatte: alleinerziehend, mit Fulltimejob und doch immer nur gerade so viel Geld im Portemonnaie, dass es zum Nötigsten reichte. Die Mütter ihrer neuen Freunde im Westen lebten meistens als Hausfrau, gut situiert, mit Ehemann, Eigenheim und Garten.

Gespräche am Küchentisch

Diese Beobachtung stand wohl am Anfang zu einem Projekt, aus dem nun ein großartiger Podcast als persönliche Familiengeschichte entstanden ist. Eineinhalb Jahre lang hat sich Katharina Thoms regelmäßig mit ihrer Mutter am Küchentisch getroffen, um darüber zu reden, was normal und was besonders war in ihrem Leben – und was das alles mit der DDR zu tun hatte. Das erste Mal hatte sie sie schon vor 20 Jahren dazu befragt – für die Schule, mit einem Kassettenrekorder. Für Mutter Thoms eine ungewohnte Situation, so im Mittelpunkt zu stehen: „So viel, wie ich hier rede, rede ich ja einen ganzen Monat nicht“, sagt sie.

Pragmatisch durchwurschteln

Unverstellt erzählt sie, gelenkt durch die Fragen ihrer Tochter, im originalen Berlinerisch des Brandenburger Umlands. Auch Katharina Thoms nimmt diesen Dialekt wieder an, wenn sie mit ihrer Mutter spricht. Das Bild, das entsteht, zeichnet vor allem die Umstände nach, die das Leben dieser Frau geprägt haben. Es offenbart die Grenzen, die ihr gesetzt wurden und innerhalb derer sie sich immer wieder zu arrangieren wusste. Was aber hat es in ihr ausgelöst, als sie sich von ihrem Traumberuf „Kindergärtnerin“ verabschieden musste, nur weil sie in der Schule einmal unbedarft ein „klassenfeindliches Lied“ mitgesungen hat? Wie hat sie die Enttäuschungen verkraftet, als sich auch der zweite Ehemann als Fehlgriff erwies? Wie hat sie sich gefühlt als Alleinerziehende mit so viel Verantwortung? „Sie wurschtelte sich zurecht,“ sagt die Tochter. “Wenn de musst, musste”, heißt das bei „Mutta“. Es ist gut und angenehm, dass Katharina Thoms es im Podcast dabei belässt.

Das Allgemeine im Alltag entdecken

Das Leben in der DDR ist seit der Wende vielfach als Stoff für Romane, Filme und Dokumentationen aufgegriffen worden. Das Spektakuläre erfährt dabei die meiste Aufmerksamkeit: die Flucht im Heißluftballon, die Ost-West-Spionage, der ungeheuerliche Verrat unter Freunden oder in der Familie. Dieser Podcast dagegen erzählt den Alltag in der DDR so, wie ihn wohl die meisten empfunden haben werden: in der Regel als eher unspektakulär. Er zeigt aber auch, wie das Alltägliche durch die Grenzen und die Einschränkungen der äußeren Freiheit definiert war, wie die Repressalien des DDR-Regimes sich auf die innere Freiheit auswirkten. Der Fall der Mauer markiert dann auch in „Muttas“ Leben einen bedeutsamen Einschnitt. Am entscheidenden Abend aber geht sie ins Bett, ohne die Nachrichten gehört zu haben.

Die Berichte von „Mutta“ bringen uns die DDR als „oral history“ näher, ein Ansatz aus der Geschichtswissenschaft, der die Vergangenheit durch den ungefilterten Erzählstrom von Zeitzeugen erschließen will. Dabei lässt man Menschen zu Wort kommen, die im Gegensatz zu Politikern, Künstlerinnen oder Journalistinnen keine historischen Quellen hinterlassen würden, würde man ihre Berichte aus dem Alltag nicht dokumentieren.

Anders als bei der historischen Methode aber lenkt Katharina Thoms diesen Erzählstrom, sie fragt nach Themen, die sie als Tochter interessieren. Da kommen zwanzig Jahre nach den ersten Aufnahmen mit dem Kassettenrekorder auch andere Fragen auf, als die, die Abiturientin damals gestellt hatte. Und ihre Mutter kann andere Antworten geben als kurz nach dem Mauerfall. Heute kann sie sich sicher sein: „Die Stasi kann mir ja nüscht mehr!“ Im Podcast stellt die Autorin die Aufnahmen von heute und von damals nebeneinander. So wird deutlich, wie sie mit zeitlichem und räumlichem Abstand und mit 20 Jahren mehr Lebenserfahrung mit einem anderen Blick auf das Leben ihrer Mutter und auf ihre eigene Kindheit und Jugend schauen kann.

Liebevolle Präsentation

Was diesen Podcast zudem deutlich von einer rein historischen Quelle abhebt, ist die Komposition, in der das Material präsentiert wird. Katharina Thoms arrangiert die Antworten nach einem Plan, sie hat die Geschichte „zerpflückt“, wie sie an einer Stelle sagt, um das Leben ihrer Mutter als Geschichte erzählen zu können und die Hörer*innen mitzunehmen. Über sieben Folgen hält sie die Spannung, fügt historische O-Töne ein und strukturiert die Erzählung mit Musik. Man wünscht nach Episode sieben, weiter zuhören zu dürfen  – wie in einer guten Serie verlässt man die Protagonistinnen mit etwas Wehmut. Und wundert sich vielleicht genau wie die Autorin, als sie ihr Projekt startete: Darüber, wie spannend der Alltag sein kann, welche Geschichten er birgt, wenn man nur richtig zuhört.

Auch die Präsentation des Podcasts ist sehr aufwändig, angefangen bei den charakteristischen Zeichnungen für das Cover und die einzelnen Folgen. Die hat Melanie Gywer angefertigt, und sie erinnern an die „Milljöhstudien“ von Heinrich Zille. „Mensch Mutta“ findet man auf allen Kanälen im Netz: bei Twitter, Instagram, Facebook und auf einer eigenen Website. Überall bietet die Autorin Kommunikation an, sammelt und teilt das Feedback, die Post von Zuhörer*innen. So ist dieses Vorzeigebeispiel auch dafür interessant, wie man einen Podcast professionell im Netz präsentiert.

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Der Aufwand, den Katharina Thoms in ihr Projekt investiert hat, würdigt das Leben ihrer Mutter in besonderer Weise. Zugleich ist „Mensch Mutta“ ein Geschenk auch für uns, die Hörer*innen. Es ist konsequent, dass die Autorin, die als freie Journalistin sonst für Auftraggeber arbeitet, dieses persönliche Stück komplett in Eigenregie produziert hat. Sie wollte sich in diesem Fall mit keiner Redaktion abstimmen. Denn nicht zuletzt ist die Geschichte ihrer Mutter auch die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biographie, damit, wie das Aufwachsen in der DDR sie selbst geprägt hat. Das berichtet sie im Podcast „Mensch, Frau Nora!“ im Gespräch mit Nora Hespers.

Es gibt in diesem Podcast keine Werbung und keinen Sponsor, keine Bitte um Spenden. So bleibt uns nur das Feedback auf diese schöne Arbeit, mit dem wir uns als Hörer*innen dafür bedanken können.

Mensch Mutter – ein halbes Leben in der DDR, ein Podcast von Katharina Thoms (Autorin und Produzentin), 2018 

Musik: Chill Carrier, Zeichnungen: Melanie Gewehr, Sound: Fabian Schaller, 
Webdesign: Karl Stefan Röser

Mensch Mutta findet man bei Instagram, Facebook, Twitter und auf der Website des Podcasts.

Auch interessant:

Schon erwähnt: Im Podcast Mensch, Frau Nora!von Nora Hespers berichtet Katharina Thoms nicht nur über das „Making-of“ von „Mensch Mutta“, sondern auch über andere spannende Projekte.

Rezension „Herstory“ von Ulrike Helwerth bei Watch-Salon.

Eine Übersicht über weitere Projekte von Katharina Thoms.

Ein Essay von Jana Hensel, DIE ZEIT 46/2018: „Erich währt am längsten“. Die Autorin fragt, wie die Nachgeborenen zu einer zeitgemäßen Erinnerung an das Leben in der DDR finden können:

„Aber die Frage, wie viel Unrecht in der DDR geschah – mehr noch, auf welch komplexe Art Alltag und Unrecht miteinander verwoben waren –, stellt sich natürlich weiterhin, hat sich eigentlich die ganze Zeit gestellt. Sie weist nämlich ins Zentrum unserer Biografien und Familiengeschichten.“