Will ich ein Kind? Die kanadische Autorin Sheila Heti hat in ihrem autofiktionalen Roman, „Motherhood“,  über eine Frau geschrieben, die schon sehr früh in ihrem Leben die Antwort auf diese so zentrale Frage gewusst hat: „Nein“. Sie habe sich stattdessen für das Schreiben entschieden, erklärt die Autorin bei „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen. (Die Sendung ist nur noch als Podcast verfügbar). Es ist ein sehr interessantes Gespräch zwischen der Autorin und Moderator Yves Bossart, unter anderem über die Bedeutung und den Sinn, den Kinder dem Leben ihrer Eltern schenken können – oder auch nicht. Beide folgen dabei einer These, die für mich zu den größten Irrtümern über das Elternsein führt. Die Idee dazu zitiert Yves Bossart aus einem Werk von Platon:

 „Alle Menschen streben nach Unsterblichkeit, nach Ewigkeit. Die einen befriedigen diesen Wunsch, indem sie Kinder in die Welt setzen, die anderen, indem sie große Werke in die Welt setzen, die die Zeit überdauern, und so etwas Beständiges von einem selbst in die Welt setzen.“ (Diotima in Platons Dialog Symposion)

Bei Shela Heti klingt das so:

„Kinder sind der beste Weg, um zu spüren, dass wir nicht grundlos auf der Welt sind. Jeder will seinen Beitrag zur Gestaltung der Welt schaffen. (…) Kinder sind der beste Weg, um das zu erreichen. (…) Ich möchte in einer etwas anderen Welt leben, und die Bücher, die ich schreibe, sind ein Versuch, dazu beizutragen, dass die Welt, die mir vorstrebt, Realität wird.“ („Sternstunde Philosophie“, 31.3.2019, SRF)

Sheila Heti_Sternstunde Philosophie

Ein Kind kann vor der eigenen Bedeutungslosigkeit nicht schützen

So wie Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken immer wieder Menschen zum vermeintlich Guten bewegen wollen, so setzen wir Kinder in die Welt, damit sie darin die Rolle spielen, die diese Welt zu einer besseren macht? Dieser Plan kann nicht aufgehen. Es steht nicht in unserer Macht, unseren Kindern diese unermesslich große Aufgabe in ihrem Leben zuzuweisen. Und selbst wenn sie sie erfüllen würden: Es wäre ihr Beitrag – nicht unserer. Wir könnten stolz darauf sein. Wir müssten uns aber der eigenen Bedeutungslosigkeit auch dann stellen, wenn unsere Kinder sie einmal überschreiten würden.

Kinder lassen sich nicht formen wie ein Kunstwerk, sie können nicht, wie Sheila Heti es formuliert, die „platonische Form des idealen Buchs“ erfüllen, das sie vor Augen hat, wenn sie schreibt. Wir können als Eltern keinen Plan für unsere Kinder aufstellen, der uns Erfüllung schenken würde, wenn er gelänge. Sie sind eigenständige Persönlichkeiten, deren Entwicklung wir begleiten und fördern, nicht aber zu einem von uns vorgegebenen Ziel lenken können.

Schweres Erbe

Und doch ist der Wunsch, es könnte so sein, weit verbreitet: Kinder, die das leben sollen, was ihren Eltern schon gut oder vielleicht auch nicht gelungen ist. Sie sollen die Karriere machen, die der Mutter, dem Vater selbst vorenthalten blieb, das glückliche Leben führen oder fortsetzen, von dem die Eltern immer geträumt haben. Es gab und es gibt so viele Beispiele, wie Kinder unter dieser Einvernahme gelitten haben, sich dagegen gewehrt haben oder im schlimmsten Fall sogar daran zerbrochen sind. Im Kleinen zu beobachten auf dem Fußballplatz, wenn Väter ihre Kinder anpfeifen, weil sie nicht engagiert genug dabei sind. Im Großen in der Zerrissenheit von Menschen, die niemals so sein wollten und konnten, wie es der Lebensplan ihrer Eltern für sie vorgesehen hatte.

Ein eigener Plan

Liegt denn nicht das große Wunder eigentlich darin, dass wir staunend zusehen dürfen, wie sich die Entwicklung der Kinder in Richtungen vollzieht, an die wir vielleicht niemals gedacht haben? Natürlich halte auch ich es für wichtig, in der Erziehung Werte zu vermitteln. Und auch ich ertappe mich dabei, mir eine Zukunft für meine Kinder zu wünschen, ihnen darin eine Rolle zuzuweisen. Aber dann überraschen sie mich damit, anders zu sein. Und oft erkenne ich auch eine Logik darin.

Meine Kinder gehen zum Beispiel nicht für FridaysforFuture auf die Straße, auch wenn sie die Anliegen sicher teilen. Ich musste erst lernen, was sie stört: Demonstrationen sind nicht ihre Form des Protests, es ist das, was sie von den Großen kennen. Etwas, von dem sie wissen, dass wir und viele ihrer Lehrer es sogar gutheißen. Sie müssen ihren eigenen Ausdruck aber erst noch finden. Denn ihr Protest richtete sich gegen DIE Erwachsenen, die jahrelang nicht aktiv geworden sind und dazu beigetragen haben, dass unser Planet und unsere Zukunft heute in Gefahr sind. Da hat es auch etwas Absurdes, wenn ein Vater sein Kinder auf dem Rad zur Demo fährt.

Die Suche nach dem Sinn bleibt – auch mit Kindern

Der Irrtum, wir könnten uns in unseren Kindern selbst verwirklichen, hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Kinder. Er hält uns selbst davon ab, den eigenen Sinn weiterzusuchen, den Grund, der es für uns rechtfertigt, auf dieser Welt zu sein. Vielleicht sogar das zu erschaffen, was über uns hinausreicht. Das Aufziehen von Kindern kann diesen inneren Antrieb eventuell eine Weile stilllegen. Das funktioniert oftmals schon deshalb, weil sie so viel von uns einnehmen, dass erst einmal keine Zeit für solche Gedanken bleibt. Vielleicht kann es über einen Zeitraum hinweg sogar gelingen, die positiven Entwicklungen der Töchter und Söhne als eigenes Werk zu betrachten. Es gibt zumindest hinreichend Beispiele, wie Eltern genau das versuchen. Es wird aber nicht nachhaltig sein.

Sinnsuche als Vorbild leben

Im Gespräch in der „Sternstunde Philosophie“ kam die Frage auf, ob eine Mutter, die viel und engagiert arbeitet oder ihre Kinder aus anderen Gründen nicht als Zentrum ihres Lebens begreift, eine „gute Mutter“ sein kann. Ich glaube ja. Mütter und Väter müssen die Last von ihren Kindern nehmen, irgendwann einmal für den Sinn des Lebens ihrer Eltern aufkommen zu müssen. Stattdessen sollten sie ihren Kindern vorleben, wie das geht: Wie man sich auf die Suche begibt nach diesem Sinn und vielleicht sogar etwas dabei findet. Zum Beispiel seinen Anteil, an dem, was die Welt zu einer besseren macht: sei es in der Kunst, in der Politik, in der Wissenschaft, in der Architektur oder in der Fürsorge für andere.

Wenn es eine rationale Antwort auf die Frage „Warum Kinder“ geben könnte, ich würde sie darin sehen: Weil sie etwas von dem, was sie als positiv in ihrer Kindheit erlebt und verstanden haben, weiterleben können. Und weil wir als Eltern ihre Kindheit in diesem Sinne gestalten können.

Sheila Heti: «Mutterschaft». Rowohlt, 2019

Sheila Heti: Ich will keine Kinder. Sternstunde Philosophie, SRF, 31.3. 2019

Zum Weiterlesen und -hören

Eine gute Rezension des Buches „Mutterschaft“ von Sheila Heti, das im Rowohlt-Verlag erschienen ist, hat Judith Langowski für den Tagesspiegel geschrieben.

2015 hat das Meinungsforschungsinstitut IMAS Eltern in Oberösterreich über ihre Einstellung zur Familie und ihre Erziehungsziele befragt. Ein Ergebnis war, dass die überwiegende Mehrheit, 84 Prozent der Eltern, in ihren Kindern den hauptsächlichen Lebenssinn sieht. Christine Haiden hat das unter „Eignen sich Kinder als Lebenssinn“ kommentiert und findet eine gute Antwort:

Eignen sich Kinder als Sinnstifter? Vielleicht ist die Antwort leichter, wenn man sie umdreht und fragt: Eignen sich Eltern als Sinnstifter für Kinder? Vorläufig und nur sehr begrenzt.

Noch mal zu empfehlen ist das gesamte Gespräch in „Sternstunde Philosophie“ (wie viele andere Folgen übrigens auch), das inzwischen als Video nur noch in der Schweiz verfügbar ist, aber als Podcast unter „Sternstunde Philosophie“ (Sendung vom 31.3.2019) oder direkt hier zu hören ist.

In der Sendung „52 beste Bücher“, ebenfalls vom SRF, stellt die Autorin ihr Buch im Gespräch selbst vor und liest daraus vor.