„Wann haben Sie das letzte Mal ausführlich mit jemandem gesprochen, der ganz andere politische Ansichten hatte? Schon länger her? Wir haben da eine Idee.“

Mit diesen Sätzen startete ZEIT online Anfang Mai den Aufruf zu einem Experiment: #deutschlandspricht. Man wollte herausfinden, ob es das noch gibt: den offenen Austausch, ein ehrliches Gespräch zwischen zwei Menschen, die gegensätzliche Ansichten vertreten. Eine spannende, gute Aktion, eine Idee, die von Anfang an viele überzeugt hat – mich auch, und das bis heute. Einen der Berichte darüber aber finde ich problematisch.

Sascha Lobo bezieht sich hier auf den Text des Chefredakteurs von ZEIT online. Am 20. Juni hat Jochen Wegner über seine Begegnung mit einem ihm bis dahin Unbekannten geschrieben. Die Idee war recht spontan entstanden: Warum sollte er als Journalist nicht selbst an dem Experiment teilnehmen? Sein persönlicher Bericht über die Begegnung mit Mirko begeisterte viele Menschen, die sich bei Twitter dazu äußerten. Den Ansatz finde ich richtig: Journalisten suchen den Dialog. Und doch hatte ich auch ein ungutes Gefühl, als ich den Text las.

Gespräch mit einem Unbekannten

Der Mensch, mit dem Jochen Wegner hier spricht, ist Maschinen- u. Anlagenführer, verbringt seine Freizeit mit Kochen, Kind und Computerspielen. Man erkenne ihn an einem dicken Nasenring, hatte er in seiner kurzen Selbstdarstellung geschrieben und  sich darin als Freund von „flachen Witzen“ geoutet.

Mirko glaubt, Deutschland habe zu viele Flüchtlinge aufgenommen, der Westen gehe nicht fair mit Russland um, und er hält den Atomausstieg für einen Fehler. Jochen Wegner vertritt zu diesen Punkten  gegensätzliche Standpunkte, und auch sonst sei Mirko, so Jochen Wegner, „ganz anders sein als alle anderen Leute, die ich in unserer Gegend kenne“.

Der Journalist zeichnet sehr genau nach, wie die Begegnung verlief, mit welchen Erwartungen er hineinging und wie überrascht er dann war, dass sich ein ziemlich gutes Gespräch daraus entwickelt hat. Ich habe etwas länger gebraucht, herauszufinden, was mich an diesem Text eigentlich gestört hat. Es fehlt etwas, das gerade für dieses Experiment essentiell wichtig gewesen wäre: die Erzählung aus der Sicht von Mirko. Er bleibt in diesem Text, auch wenn er selbst sich äußert und Jochen Wegner aus seinen Mails und WhatsApp-Nachrichten zitiert, das Objekt der Berichterstattung. Er ist „der Andere“, dem sich der Autor offen, neugierig und wohlwollend nähert. Aber: Was empfindet jemand wie Mirko, wenn er mit dem politisch Andersdenkenden spricht? Was fällt ihm auf, welche Überraschungen erlebt er, welche Differenz nimmt er wahr und was denkt er nachher? Was ist im Stadtteil, wo Mirko wohnt, anders als dort, wo Jochen Wegner beim Einkauf im Bioladen seine Freunde trifft?

Mirko habe ihm erlaubt, über ihr Treffen zu schreiben, erklärt der Chefredakteur im Text. Der Journalist will seinen Gesprächspartner für das Experiment nicht instrumentalisieren – diese Sensibilität ist gut und angebracht, wenn man den Austausch auf Augenhöhe sucht. Doch es bleibt ein Ungleichgewicht, wenn diese Augenhöhe nur aus einer Perspektive heraus entwickelt wird und die Deutungsmacht über das Zwiegespräch einem von beiden überlassen bleibt. Die Folge ist nicht unerheblich, weil die Meinung, die der andere vertritt, eben auch die „andere“ bleibt.

Diversität in Redaktionen – ein Schwachpunkt

Dieses Missverhältnis ist meiner Meinung nach über das einzelne Experiment hinaus beachtenswert. Es verweist auf eine grundsätzliche Schwachstelle von Medien, in denen uns Journalist*innen ein Bild der Welt vermitteln, die sich von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Bildungshintergrund und oft sogar in ihren Vorlieben oftmals sehr ähnlich sind. Das wird problematisch, wenn Menschen, die diesen Hintergrund nicht teilen und in anderen Zusammenhängen leben, sich mit ihren Themen und Anliegen als Publikum nicht wiederfinden. Einen Mirko gibt es nicht nur im Prenzlauer Berg von Jochen Wegner nicht, es gibt ihn auch nicht in den Redaktionen. Sollte es gerade deshalb nicht weniger Experiment, sondern journalistischer Alltag sein, dass ein Journalist mit jemandem wie Mirko ins Gespräch kommt?

Zu wenig Nähe zum Publikum, zu nah dran an den Eliten?

Die fehlende Vielfalt in den Redaktionen ist auch dann problematisch, wenn es auf der anderen Seite eine zu große Nähe zur Elite eines Landes gibt. Darauf verweist der Medienwissenschaftler Uwe Krüger aus Leipzig in einem Beitrag des Deutschlandfunks über die „Vertrauenskrise in den Medien“:

„Uwe Krüger konstatiert eine wachsende soziale Homogenität. Arbeiter- und Migrantenkinder finden sich selten in Redaktionen. Die Mehrheit der Journalisten in den meinungsprägenden Medien komme wie die meisten Politiker und Lobbyisten aus dem deutschstämmigen Bildungsbürgertum.“

Mit einem anderen Text von #deutschlandspricht gelingt das Experiment aus meiner Sicht besser: Ein Professor und ein Student mit auf den ersten Blick gegensätzlichen politischen Ansichten treffen sich zum Diskutieren. Ihre Begegnung zeichnet ein Text bei ZEIT Campus als gemeinsames Protokoll nach. In wechselnder Perspektive schildern die beiden zu den einzelnen Themen ihre Postionen und beschreiben, wie sie das Gespräch jeweils erlebt haben. Es bleibt den Leser*innen überlassen, ob für sie hier der Professor oder Student „der Andere“ ist.

Weiterlesen: Für die Initiative „Schmalbart“ hat sich die Journalistin Leonie Haenchen ein vergleichbares, wenn auch anders gelagertes Format der ARD angesehen. „Sag’s mir ins Gesicht!“ sucht ebenfalls das Gespräch auf Augenhöhe – und kommt dort nicht so wirklich an, so das Fazit ihres Textes.