Als vor knapp einer Woche eine OECD-Studie über die ungleiche Verteilung von Bildungschancen an deutschen Schulen veröffentlicht wurde, war das für zahlreiche Medien – wieder einmal – Anlass,  von „sozial schwachen Schülern“, „sozial schwachen Familien“, gar von „sozial schwachen Schulen“ zu berichten. Es reicht, den Begriff einmal unter Google news zu suchen, um zu sehen, welche Medien von taz über Tagesspiegel bis Deutschlandfunk in welchen Zusammenhängen vor dieser diskriminierenden Zuschreibung nicht zurückschrecken – nur als ein Beispiel von vielen das folgende:

Diese Woche erst hat uns ja auch ein OECD-Bericht vor Augen geführt, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist, dass Schüler aus sozial schwachen Familien oft auch noch doppelt gestraft sind, weil sie eben auch eine sozusagen sozial schwache Schule besuchen.

Deutschlandfunk-Gespräch  vom 23.10.2018

Gerade in diesem konkreten Zusammenhang könnte den Berichtenden doch aufgehen, dass sie mit ihrer Wortwahl eben den Zustand verstärken, den die Studie als Missstand beschreibt: Dass nämlich Kinder schlechtere Chancen auf eine erfolgreiche Bildung haben, wenn sie in Familien mit wenig Geld aufwachsen und ihre Eltern formal weniger gebildet sind. Der Stempel „sozial schwach“ kann die Gräben nur verstärken, die sich durch die unterschiedlichen Voraussetzungen bereits auftun. Da hilft es auch nichts, wenn man den Begriff in Anführungszeichen setzt oder von „so genannten sozial-schwachen“ Familien spricht. Sozial schwach – das suggeriert, dass es diesen Menschen an sozialen Kompetenzen fehle, an der Fähigkeit, sich in die Gemeinschaft mit anderen zu integrieren, dass sie sich asozial verhielten. Das alles aber kann nicht gemeint sein.

Eine Zumutung für die vermeintlich Gemeinten

Es geht um Familien, die unter „schwierigen sozioökomischen Bedingungen“ leben, wie es bei ZEIT online in einem der wenigen Texte zur Studie heißt, die die Formulierung vermeiden. Hört sich blöd an? Da empfehle ich ein Gespräch mit den Menschen, die in den Stadtteilen leben, die Journalist*innen und andere immer wieder als „sozial schwache Wohngebiete“ abstempeln. Sie (und auch die Quartiersmanagerinnen, Sozialarbeiter und Familienbegleiterinnen, die dort arbeiten) empfinden diese Zuschreibung als eine Zumutung, die den Betroffenen seit Jahren widerfährt.

Soziales Unwort

Wie desinformativ dieser Begriff ist, wie sehr er Tatsachen verschleiert und Menschen diskriminiert, ist schon in zahlreichen Texten gut erklärt worden (siehe unten). Bereits 2013 hat die Nationale Armutskonferenz (nak) ihn auf Platz eins der „sozialen Unwörter“ gesetzt. In der Zeitschrift Journalist wurde „sozial schwach“ noch im Februar dieses Jahres zur „Floskel des Monats“ erklärt. Spricht man Journalist*innen oder andere Menschen direkt darauf an, so gibt es aus meiner persönlichen Erfahrung niemanden, der den Begriff für angemessen hält. Verwendet wird er aber weiter – immer wieder.

AfD möchte „sozial-schwach“ nicht verhindern

Die Linke Neukölln hat in Berlin im August dieses Jahres einen Antrag bei der Bezirksverordnetenversammlung gestellt, „sozial schwach“ zumindest in den Dokumenten und Publikationen der Bezirksämter nicht mehr zu verwenden. Der Antrag wurde angenommen. Am Ende hatte bezeichnenderweise nur noch die AfD mit dem Vorwurf der „Zensur“ dagegen protestiert.  Auch in Spandau hatte ein entsprechender Vorstoß bereits Erfolg gehabt. (Quelle: Neues Deutschland, 7.8.2018) Die Berliner Bezirke sind damit um einiges weiter als ein Großteil vieler deutscher Medien, darunter auch Qualitätsmedien, in denen sich niemand an der Verwendung zu stoßen scheint.

„Sprache ist nicht neutral, Sprache bewertet. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle Sprache so nutzen, dass sie keine Klischees (re)produziert“. Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, zum Unwort „sozial schwach“

Sprache entwickelt sich

Und Sprache wandelt sich. Ich kann mich selbst noch gut daran erinnern, dass früher von „Asozialen“ die Rede war, wenn es um Menschen ging, die wenig Anteil an Bildung und Wohlstand hatten, aus welchen Gründen auch immer das so war.  Irgendwann schien das dann nicht mehr passend – heute schreibt das niemand mehr. Eine Zeitlang war dann „Unterschicht“ en vogue – bis man „sozial schwach“ „netter“ fand, wie der Journalist und Wissenschaftler Jens Wernicke 2016 schreibt. Netter mag es vielleicht klingen, ist es aber nicht. Das erklärt er so:

„Sozial schwach“ ist kein Begriff, der angemessener, humaner oder hilfreicher als die vormals üblichen Bezeichnungen ist. Obwohl er tatsächlich etwas „netter“ klingt, ist tatsächlich sogar eher das Gegenteil der Fall. Die dem Begriff innewohnende „Menschenfeindlichkeit“ kommt lediglich in einem etwas subtiler formulierten Gewand einher. Aus dem zutreffenden Satz „Die Menschen sind schwach, weil sie arm sind!“, kann – und soll offenbar – so die Verdrehung werden: „Die Menschen sind arm, weil sie soziale Defizite haben!“ Jens Wernicke, Website Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, 2016

Was könnte besser sein?

Überfällig also, genau hinzuschauen, über wen man eigentlich spricht, und dann konkret zu werden, um mal ein paar Alternativen zu nennen.

  • benachteiligte Menschen
  • Menschen mit wenig Geld
  • sozioökonomisch benachteiligte Menschen
  • Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen
  • Kinder mit schwierigen Startvoraussetzungen
  • Schulen mit Kindern aus weniger gebildeten Elternhäusern

Ich möchte nicht behaupten, dass es immer einfach ist – wie die Realität sind die Dinge komplex und das klingt dann auch so.

Zeit, etwas zu unternehmen

Sprache wandelt sich – das sehe ich als Chance und habe ein Anliegen: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass „sozial schwach“ aus unserem Sprachgebrauch und den Medien verschwindet. Es geht mir nicht darum, Sprachpolizei zu spielen oder sich über die zu erheben, die das unpassende Etikett vielleicht unbewusst im aktiven Sprachgebrauch führen. Das traf bis vor einigen Jahren übrigens auf mich selbst zu – bis mich ein Sozialarbeiter unsanft darauf hinwies, wie unpassend meine Formulierung sei. Ich bin ihm bis heute sehr dankbar dafür.

Worum es mir geht: Betroffene Menschen dürfen nicht diskriminiert werden. Sprachlich darf nicht länger verschleiert werden, dass es bei uns Männer, Frauen und Kinder gibt, die zu wenig Geld haben, um am gesellschaftlichen Leben wirklich teilzuhaben. Und am Ende sollte es nicht bei der sprachlichen Eliminierung bleiben. Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass in einer sozial starken Gesellschaft Menschen nicht weiter in Armut leben und Ausgrenzungen erfahren müssen.

Wenn Sie mein Anliegen teilen, habe ich eine Bitte: Schreiben Sie den Redaktionen, die die Formulierung weiter nutzen, was Sie davon halten. Machen Sie im direkten Gespräch Menschen darauf aufmerksam, wie diskriminierend „sozial schwach“ ist. Über Rückmeldungen zu den Erfahrungen hier in den Kommentaren bin ich dankbar.

Update 16.11.: Bei piqd.de hat Simon Hurtz diesen Text empfohlen – in den Kommentaren seines piqs gibt es eine Debatte, in der einige die Kritik am Begriff nicht nachvollziehen bzw. sich an den Alternativen stören.

Zur Unterstützung: gute Beiträge als Argumentationshilfen

  • Ausführlich argumentiert der oben zitierte Beitrag von Jens Wernicke: „’Sozial Schwache’ – Inhalte und Funktionen eines fragwürdigen Begriffs“ auf der Website Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
  • Kurz auf den Punkt gebracht: das Erklärvideo des Bayerischen Rundfunks: „Was ist sozial schwach?“
  • „Hilfe für Kids“ hat eine Kampagne gestartet und sammelt Fundstücke. Die sind recht aktuell und zeigen, wie fest die Formulierung in der täglichen Berichterstattung verankert ist.
  • Lesenswert: „Wieso ‚sozial schwach’ die kleine Schwester von Scheiße ist“ – Rico Grimm machte 2016 bei den Krautreportern einen weiteren Versuch, „sozial schwach“ zu beerdigen. (Bezahlschranke, aber vielleicht einmal die Gelegenheit, einen Monat Krautreporter Probe zu lesen).
  • Lesenswert: Kein Mensch ist „sozial schwach“ von Adrian Korte.
  • Nachtrag 16.11.: Anlässlich der Debatte um die Hashtag-Debatte #unten sagt der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch in einem Interview in der taz: „Unsere Gedanken gehen durch einen Sprachfilter und werden so an die anderen Mitglieder weitergegeben. Wenn beispielsweise „sozial schwach“ verwendet wird, dann wird automatisch darüber nachgedacht, wie man die Menschen „stärken“ kann. Das ist der falsche Ansatz – und löst das Problem nicht.“