Komplexität ist zu kompliziert? Der Physiker Dirk Brockmann hat ein Buch geschrieben, das in einer Umgebung von lauter Bäumen den Wald erkennen lässt.

Brauchen wir im öffentlichen Diskurs und in der Bildung mehr Offenheit für Komplexität, anstatt immer alles auf Einfachheit zu trimmen? Müssen wir über neue Ansätze für die Wissenschaftskommunikation nachdenken, wenn selbst ernannte Querdenker*innen und Verschwörungserzählungen immer mehr Zuspruch erfahren und gleichzeitig die akuten Bedrohungen durch Klimawandel und Artensterben von vielen Menschen und verantwortlichen Politiker*innen immer noch nicht als solche verstanden werden?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen bin ich auf ein Buch gestoßen, das mir auf mehreren Ebenen geantwortet hat – und meine eigenen Fragen hat hinterfragen lassen. Dirk Brockmann zeigt in „Im Wald vor lauter Bäumen“, wie die Wissenschaft über Disziplinen und Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinweg Parallelen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen komplexen Phänomenen entdeckt. Er erläutert, was Komplexität bedeutet, und macht vor, wie mit anschaulichen Beispielen, persönlichen Geschichten und selbst gezeichneten Skizzen die Prinzipien komplexer Systeme an Menschen ohne Vorkenntnisse vermittelbar sind. So ist ein spannendes, unterhaltsames Buch entstanden, das ich gerne und mit viel Erkenntnisgewinn gelesen habe.

Die Kunst des Vernachlässigens als Ausgangspunkt für Erkenntnisse

Schon in der Einleitung über Komplexität habe ich verstanden, dass meine Eingangsfrage nicht weiterführt. Es geht nicht darum, ob wir Phänomene vereinfachen sollten, um sie verständlicher zu machen. „Einfach“ ist auch kein Gegensatz zu „komplex“, dazu gleich mehr. Zunächst wäre es hilfreich, „vereinfachen“ durch „reduzieren“ zu ersetzen und zu schauen, ob sich die Kommunikation aus der Wissenschaft abgucken kann, wie damit zu arbeiten ist:  

„Neben Mathematik als Werkzeug und der Konstruktion mathematischer abstrakter Modelle erlernt man in der Physik sehr früh die Kunst des Vernachlässigens, was ja in der Komplexitätswissenschaft so wichtig ist.“

Dirk Brockmann, Im Wald vor lauter Bäumen, Seite 42

Die zentrale Frage ist aber, wie diese Reduktion vorgenommen wird. Klassischerweise werden Phänomene für ein besseres Verständnis in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen in Einzelteile zerlegt, um sie dann in aller Detailtiefe in den einzelnen Fächern zu untersuchen. Komplexitätswissenschaftler:innen folgen einem anderen Ansatz: Sie versuchen zunächst als Gemeinschaft von Forschenden verschiedener Disziplinen dem Wesentlichen unterschiedlicher Phänomene, bei denen sich aber Gemeinsamkeiten entdecken lassen, auf den Grund zu gehen. Sie versuchen, ihre Essenz zu finden. 

Dirk Brockmann zieht zur Veranschaulichung des für die Komplexitätswissenchaft charakteristischen Reduktionismus in einem Interview einmal die Stierskizzen von Picasso heran. Der Künstler hatte in einer Abfolge von Zeichnungen auf immer mehr Details verzichtet und war so zu einer abstrakten Darstellung des Tiers mit mehreren Strichen gekommen. Die Bildfolge ist hier als ein Daumenkino zu sehen.

Noch einfacher demonstriert eine der vielen anschaulichen und amüsanten Skizzen im Buch, die der Autor selbst gezeichnet hat, den Unterschied zwischen den zwei Arten des Reduktionismus: 

Dirk Brockmann, im Wald vor lauter Bäumen, dtv Verlag, Seite 37

Antidisziplinäre Kommunikation für mehr Verständnis

Schon hier also ein dickes Rufzeichen für Wissenschaftskommunikation: Um ein tieferes Verständnis von komplexen Phänomenen aus Natur und Gesellschaft zu vermitteln, wäre es sinnvoll, Erkenntnisse nicht aus den verschiedenen Disziplinen heraus zu kommunizieren. Was Dirk Brockmann für die Wissenschaft noch viel radikaler fordert, als es bislang (in Deutschland) umgesetzt wird, gilt auch für die Kommunikation: Wir brauchen antidisziplinäre Ansätze, die – im Gegensatz zu interdisziplinären Diskursen – die Grenzen ihres Fachs schon überwunden haben und sich gemeinsam auf das Wesentliche ihres gemeinsam untersuchten Gegenstands konzentrieren. Dabei sollte die Wissenschaftler:innen von Anfang an auch die Frage leiten: Wie können wir unsere Erkenntnisse Menschen weitergeben, die nicht Teil der wissenschaftlichen Diskurse sind? Das Verlassen der eigenen Fachdisziplin und damit auch der jeweiligen Fachsprache trainiert für diese Aufgabe. 

Kompliziert ist nicht komplex

Ein weiterer Hinweis im Buch, den ich für die Kommunikation von Wissenschaft interessant finde, ist die Unterscheidung von kompliziert und komplex. „Kompliziert ist subjektiv“, schreibt Dirk Brockmann. Kompliziert erscheinen uns Gegenstände und Sachverhalte, die sich aus vielen Einzelteilen zusammensetzen, die voneinander abhängen, sich gegenseitig bedingen und Einfluss aufeinander ausüben, so dass wir schnell den Überblick verlieren. Dabei liegt die Wertung aber im Auge des Betrachtenden. Ein Uhrenmacher kennt das Innenleben einer Uhr ganz gut und wird es mit einer gewissen Zeit der Berufspraxis viel weniger kompliziert finden als ein Mathematiker, der sie zur Reparatur abgibt und niemals wagen würde, sie zu öffnen.

Komplex dagegen ist eine Eigenschaft von Phänomenen, die ihnen inhärent ist. Sie verlieren sie auch dann nicht, wenn wir uns intensiver damit beschäftigen und sie schon gut durchdrungen haben. So ist die Pandemie ein komplexes Phänomen, weil sie unter anderem durch soziale, biologische, politische und psychologische Faktoren zugleich bestimmt ist, die an sich nicht alle vorhersehbar und offensichtlich sind. „Zu viel Faktor Mensch“ ist im Spiel, sagt Dirk Brockmann. Gleichzeitig aber zeigen sich bestimmte Muster und verborgene Regeln, denen komplexe Systeme wie eine Pandemie sie ist, folgen. 

Diese zu erkennen und sichtbar zu machen, bei Berechnungen zu berücksichtigen, bestimmt die Arbeit von Komplexitätsforscher:innen. Durch das Aufeinanderlegen unzähliger Phänomene, die in verschiedenen Disziplinen bereits beobachten werden konnten: Tsunami-Katastrophen, Erdbeben, Ausbreitung von Verschwörungserzählungen, Entstehung von Echokammern, Vögelschwärme und Ameisenkolonien, lassen sich bestimmte wiederkehrende Prinzipien herausfiltern.

Auch das ist ein Ansatz, der für die Wissenschaftskommunikation wegweisend ist: Statt einzelne Phänomene in ihren Besonderheiten zu beschreiben, führt es zu einem übergreifenden Verständnis, sich auf Gemeinsamkeiten zu fokussieren, sie sichtbar zu machen und durch konkrete Beispiele zu erklären. Wer Grundprinzipien komplexer Systeme einmal verstanden hat, kann viele Phänomene um uns herum in ihren verschiedenen Dimensionen erfassen. Und wird wohl automatisch skeptisch, wenn Heilpraktiker:innen, selbsternannte Checker auf YouTube oder politische Dämagog:innen mit allzu unterkomplexen Lösungen daher kommen. 

Komplexitätsmechanismen – alle „mit K“

Um die Verbundenheit dieser einzelnen Komplexitätsprinzipien hervorzuheben – alle wirken letztlich ineinander und sind durch Rückkoppelungen gekennzeichnet – arbeitet Brockmann mit der schönen Allegorie „mit K“. Dabei spielt die Reihenfolge, in der die einzelnen Kapitel gelesen werden, für das Verständnis keine Rolle, es gibt keine Hierarchie in ihrer Wirkung, sie bedingen sich gegenseitig. Komplexität entsteht, weil folgende Prinzipien wirksam sind:

  • Koordination
  • komplexe Netzwerke
  • Kritikalität
  • Kipppunkte
  • kollektives Verhalten 
  • Kooperation 

Ich habe am Ende dieses Textes den Versuch unternommen, die Prinzipien, die im Buch auf gut 150 Seiten gut beschrieben sind, kurz zusammenzufassen bzw. mit kurzen Teasern einzuführen, um eine ungefähre Vorstellung davon zu wecken, was damit gemeint sein kann. Wer sie wirklich verstehen und in ihrem Zusammenwirken durchdringen möchte, sollte das Buch lesen.

Werkzeuge statt Betriebsanleitung

Man kann anhand dieser Prinzipien komplexe Systeme in ihrer Vielschichtigkeit, Unberechenbarkeit und in ihrer Verwobenheit besser verstehen. Und doch: Die Komplexitätswissenschaft und sein Buch, so gesteht Brockmann ein, liefern damit noch keine Betriebsanleitung, wie wir die Menschheit aus den aktuellen Krisen noch retten könnten – aber vielleicht die Werkzeuge dafür. 

Werkzeuge liefern beide – Buch und Wissenschaft – für die Kommunikation. Und die ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Wir müssen reden über die uns aktuell bedrohenden Krisen genauso wie wir die Dringlichkeit des Handelns vermitteln müssen. Und wir müssen verstehen, warum manche Maßnahmen eher geeignet sind als andere, um „das Ding am Ende noch zu drehen“. Das kann nur dann geschehen, wenn wir alle mehr von Komplexität verstehen.

Wissenschaftler:innen in der Öffentlichkeit

Dirk Brockmann engagiert sich auch hier: Er hat als Modellierer in der Pandemie zahlreiche Interviews gegeben, war in Talkshows und Podcasts zu Gast. Die BILD-Zeitung hat ihn (auch deshalb) als einer der drei „Lockdown-Macher“ kurz vor Weihnachten an den Pranger auf Seite eins des Blatts gestellt. Es gab viele Proteste bis hin zum Presserat, der leider nicht reagierte. Bei der nachträglichen öffentlichen Aussprache der drei Wissenschaftler:innen und Vertretern von Wissenschaftsorganisationen mit BILD-Chefredakteur Johannes Boie Anfang dieses Jahres fehlte der Physiker. Ohne die Hintergründe zu kennen: Im Nachhinein war das wohl gut so. Ich hatte nach der öffentlichen Diskussion nach einem Hinweis im Twitter-Account von Dirk Brockmann gesucht – wenn ein Komplexitätsforscher bei einer Diskussion mit BILD fehlt, könnte das auch kein Zufall sein. Zwar habe ich dort gar keine Kommentare zur BILD Diskussion gefunden, bin aber auf das Buch gestoßen. Für mich in jedem Fall das beste Ergebnis dieser eher unglücklichen Veranstaltung – das Buch hat mein Denken erweitert und mir für die Kommunikation von Wissenschaft sehr wichtige Impulse gegeben.

Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen. München, dtv Verlagsgesellschaft, 2021.

Das Buch ist Folge eines Projekts, in dem Dirk Brockmann für eine Vorlesung schon einmal auf andere Art den Versuch unternommen hatte, komplexe Systeme erlebbar zu machen, hier mit interaktiven Computersimulationen . Die Sammlung ist beeindruckend.

Podcast-Gespräche mit Dirk Brockmann: 

NDR-Podcast „Die Idee“ vom 23.9.2021: Norbert Grundei im Gespräch mit Dirk Brockmann.  

Jung & naiv vom 2.12.2021: Horst Jessen im Gespräch mit Dirk Brockmann.

Mit K – Mechanismen komplexer Systeme 

Koordination

Das Klatschen, das nach kurzer Zeit in einen rhythmischen Applaus übergeht, die Ströme von Passanten, die sich auf Gehwegen formen, die Herzmuskelzellen, die synchron elektrische Impulse abgeben, so dass der Herzmuskel kontrahiert – all das sind Mechanismen der Koordination, die wir in Natur und Gesellschaft vorfinden. Ganz von selbst, ohne Einfluss von außen oder kontrollierende Instanz, entsteht aus einem Chaos eine „kollektive, dynamische Ordnung.“

Komplexe Netzwerke

Netzwerkeffekte sind oftmals schwierig nachzuvollziehende Mechanismen, was damit zusammenhängen mag, dass sie nicht immer „im Einklang mit unserem gesunden Menschenverstand stehen“ (S.71). Man mag schon von der Theorie gehört haben, dass wir von allen Menschen dieser Welt durch nur sechs andere Menschen getrennt sind. Netzwerke machen unsere Welt zu einem Dorf, indem sie durch verschiedenen Knotenpunkte mit Kanten (Verbindungen) Verknüpfungen herstellen. Erhöht sich die Anzahl dieser Knotenpunkte oder verändern sie sich im Grad ihrer Verknüpfung, so hat das Auswirkungen, die bei exponentiellem Wachstums dieser Knotenpunkte kaum noch kontrollierbar sind. Die Pandemie hat uns das gezeigt, indem in nur kürzester Zeit aus einem Einzelfall in China eine weltweite Ausbreitung des Corona-Virus entstehen konnte. 

Kritikalität

In kritischen Systemen können marginale Veränderungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Ein Sandkorn kann genügen, einen Hügel, wie er sich in der Sanduhr nach und nach aufbaut, zusammenbrechen zu lassen. Eis im See kann bei Belastung schnell einbrechen, wenn die Decke nicht über eine bestimmte Dicke verfügt. Arten sterben nicht langsam, sondern die Evolution hat Massensterben gezeigt. Zusammengefasst von Dirk Brockmann: Die beobachteten Potenzgesetze katastrophaler Ereignisse, wie Waldbrände, Pandemien, Terrorismus, Erdbeben, bedeuten, dass wir immer damit rechnen müssen, dass Ereignisse kommen, die um Größenordnungen schlimmer sind als das, was man bereits kennt, und wir uns nachhaltig darauf einstellen und Reaktionen auf solche Ereignisse planen müssen. (…) Dabei bleibt als Hoffnungsschimmer, dass kleine Veränderungen eben auch zu Stabilität führen können und auch die Möglichkeit zu einer Weiterentwicklung in sich tragen. 

Kipppunkte

Man könnte sie als „point of no return” bezeichnen: Kippunkte sind die Wegmarken einer Entwicklung, von denen aus es kein Zurück mehr gibt. Im Buch wird das sehr anschaulich gemacht durch Murmelkugeln, die einen Hügel auf verschiedene Löcher zurollen. Ab einem bestimmten Punkt ist es für sie nicht mehr möglich in einem anderen Loch zu landen als das, auf das sie gerade zusteuern. In der Diskussion um den Klimawandel taucht der Begriff immer wieder auf, um zu warnen, dass unsere Zeit, in der wir noch die Möglichkeit haben, einzugreifen in das kritische System (s.o.) begrenzt ist. Diese Punkte sind durchaus vorhersehbar: Eine graduelle Annäherung an einen Kipppunkt führt zu stärkeren zufälligen Schwankungen in den Systemen. Wir können diese Schwankungen aktuell an den Wetterkatastrophen gut beobachten. Ein ganz anderer Fall aus dem Wahlkampf: In einem Zeitungsartikel wurde das Lachen Armin Laschets als Kipppunkt interpretiert: 

Ein Lachen wird zum Kipppunkt im Wahlkampf

Dass Kanzlerkandidat Armin Laschet im Hintergrund lachte, während der Bundespräsident an die Opfer erinnerte, dass er also zumindest scheinbar mitleidlos wirkte, war der Kipppunkt der Kampagne des CDU-Kandidaten. Von Erftstadt aus führte der Weg recht gerade Richtung Niederlage.

RND, Thorsten Fuchs, 29.12.2021

Kollektives Verhalten

Wir können am Himmel sehen, wie es Vögeln gelingt, sich in Schwärmen zu organisieren, die von außen wie von einer geheimen Choreographie gesteuert erscheinen. Wir beobachten Ameisen mit wenig Gehirn und wenig eigener Körperkraft, die aus eigenen Körpern sogar Zelte bauen und mit diesen von Ort zu Ort zu ziehen – ohne miteinander zu kommunizieren. Ohne diese Phänomene bis ins letzte schon erklären zu können, wissen wir, dass sie auf Automatismen beruhen und Instinkte im Spiel sind. Beides könnte neben anderen Faktoren eine Rolle spielen, wenn sich Fußgängerströme, Echokammern und Filterblasen bilden. Auch wenn klar ist, dass menschliche Prozesse der Meinungsbildung sich nicht mit Schwarmverhalten von Tieren alleine erklären lässt, so können die Parallelen helfen, sie besser zu beschreiben und zu verstehen.

Kooperation

Der letzte Mechanismus, der im Buch beschrieben wird, ist auch der hoffnungsvollste, weil hier die Lösung liegen mag. Überall in der Natur kooperieren Lebensformen mit der mikrobiologischen Welt und sichern dadurch ihr Überleben: So beispielsweise der Zwergtintenfisch, der dank bestimmter Bakterien in seinem Körper nachts leuchtet und so im Mondlicht keinen Schatten wirft, durch den er für Raubfische schnell erkennbar wäre. Flechten aus Algen und Pilzen gehören zu den langlebigsten Lebewesen, Spieltheorien zeigen, dass kooperative Ansätze statistisch mehr Chancen auf Erfolg haben als individuelle. Nur durch Kooperation mit anderen, das zeigt Brockmann am Ende mit dem schönen Beispiel des Kopfballwunders von Fußballprofi Horst Hrubesch, könnte es gelingen, auch ein verloren gegangenes Spiel in einer kritischen Situation an einem Kipppunkt noch zu drehen. Wer das noch einmal nachempfinden möchte, kann sich einen Rückblick auf das legendäre Spiel ansehen.