Ein Buch als Helden- und Heldinnenreise.

„Wir sind also eine Spezies, die irgendwann begann, Geschichten zu erzählen, um zu überleben und sich weiterzuentwickeln, und die dadurch ihre Entwicklung enorm beschleunigen konnte. Wir sind Affen, die durch das Geschichtenerzählen erst zu Menschen wurden.“ 

So erklären Samira El Ouassil und Friedemann Karig auf Seite 81 den Titel ihres gemeinsamen, großartigen Buchs „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen.“ (Ullstein Verlag, 2021). Bis dahin darf sich die Leser*in über den Titel wundern, und das ist Programm. Denn nur Schritt für Schritt werden wir auf einer Reise durch die Theorie des Erzählens bis zur „Erlösung“ geführt. Am Ende gehen wir gestärkt und gewärmt aus der Lektüre heraus, jederzeit bereit, die Welt mit neu erzählten Geschichten zu verbessern.

Beide Autor*innen arbeiten auch als Journalist*innen (sehr empfehlenswert an dieser Stelle ihr gemeinsamer Podcast „Piratensender Powerplay“ – ein Gespräch über die politischen Ereignisse am Ende der Woche). In ihrem Buch aber laden sie ihre Leser*innen ein, am gemeinsamen Lagerfeuer Platz zu nehmen. Sie möchten uns auf eine Heldenreise (Erklärung siehe folgend) einladen. Also: Keine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse am Anfang, keine Nachrichtenpyramide, mit der die wesentlichen Fragen zuerst zu beantworten wären. Es geht um eine Geschichte, die uns helfen mag, nicht weniger als die Welt zu retten.

Großer Bogen durch die Geschichte diverser Menschheitserzählungen

Mir erging es auf dieser Reise manchmal wie einem ungeduldigen Kind, das auf das Gute am Ende hofft, im Laufe der Erzählung immer unruhiger wird, sich manchmal Augen oder Ohren zuhalten muss und auf die Auflösung geradezu fiebert. Dennoch bin ich dem „und dann“ der beiden Erzählenden gerne gefolgt. Sie erzählen gut, haben unzählige Beispiele mit viel Hintergrund im Gepäck und spannen einen großen Bogen – wahrlich kein Entspannungstrip. Wir verstehen, wie die klassischen, in Literatur, Film und Serien unendliche Male reproduzierten Liebesgeschichten unser Verständnis von Beziehungen begründen. Wir erfahren, wie sich unsere Identität als Subjekte als Konstrukt verschiedener Erzählungen und Mythen erweist („Das Selbst ist also nur eine Geschichte, die ich mir über mich selbst erzähle“, Seite 118). Wie sich die neoliberale Erzählung „Jeder ist seines Glückes Schmid“ im Zuge der Aufklärung bis heute als eines der „wirkmächtigsten Märchen für Erwachsene“ durchsetzen konnte. 

Die beiden Autor*innen erklären den Mechanismus des faschistischen Narrativs, das die „goldene Vergangenheit“ als Lösung für die Gegenwart heraufbeschwört. Sie entlarven die Radikalisierungsstrategien der Rechten sowie die Fiktionen der großen Lügner von Hitler bis Trump. Sie gehen der langen Geschichte des Antisemitismus bis auf seinen Gründungsmythos im zwölften Jahrhundert nach. Sie machen verständlich, wie das Narrativ einer sexuellen Verknappung die Grundlage schafft für Frauenhass. Am Ende wagen sie sich an die großen aktuellen Krisen heran, Klimawandel und Pandemie, die mit unseren bekannten Erzählstrategien gar nicht mehr richtig zu erfassen sind. Das alles enthält unendlich viele Verweise auf sehenswerte Filme, Literatur, Serien und kluge Bücher – alleine deshalb wird das Buch als Nachschlagewerk einen Platz in meinem Regal behalten.

Wer aber nun nach dieser Zusammenfassung schon eine leichte Ermüdung fühlt, empfindet ähnlich wie ich gegen Ende des Buches, kurz bevor es zur „Ergreifung des Schwertes“ kommt. Die beiden Autor*innen spiegeln uns unseren Zustand als „erschöpfte Affen“. Denn die Narrative, die wir auf der Reise kennen lernen, sind ja nicht neu. Wir begegnen ihnen jeden Tag, wir erleben ihre Wirkmacht, wir haben die Strategien wie etwa das Framing, die Verbreitung von Verschwörungserzählungen über YouTube eigentlich auch schon durchdrungen. Können wir aber etwas gegen sie ausrichten?

Neue Strukturen für aktuelle Narrative

Samira El Ouassil und Friedemann Karig sehen einen Ausweg – und bis sie uns den am Ende aufzeigen, gibt es schon vorab immer wieder einzelne konstruktive Hinweise, wie wir die Narrative verändern müssten, um der Komplexität der Gegenwart und den großen Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können. Dafür zitieren sie kluge Menschen, Mentor*innen, die uns das notwendige Werkzeug an die Hand geben.

Einer dieser Ansätze ist es, das klassische Erzählprinzip der Heldenreise um die Heldinnenreise zu erweitern. Die Heldenreise wird im Buch gleich zu Anfang als das Grundmuster aller Erzählungen schlechthin vorgestellt, ein Monomyhtos, der in allen Erzählungen seinen Ausdruck findet und damit auch unsere Wahrnehmung von Welt maßgeblich beeinflusst. Wie diese Heldenreise aufgebaut ist, hat vor allem der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbel herausgearbeitet, seine Erkenntnisse sind im Buch und im Wikpedia-Eintrag nachzulesen.

Es gibt inzwischen aber auch Kritik an dieser Einseitigkeit, unter anderem weil das Erzählmuster eben deutlich patriarchal zu lesen sei und andere, weniger gradlinige Erfahrungen, nicht einbeziehe. Diese Kritik aufgreifend verweisen die Autor*innen auf den Alternativentwurf der „Heldinnenreise“. Die Autorin Cail Carriger bringt diesen Gegentwurf auf einen Satz: 

„ Die zunehmend vernetzte Protagonistin schreitet mit guten Freunden umher und stupst sie und andere an, um gemeinsam den Sieg zu erringen“.

Gail Carriger, The Heroines Journey, zitiert auf S. 365

Netzwerke und Kooperation also sind die Prinzipien, die die Heldenreise erweitern könnten. Das Buch hat mir geholfen, beide Erzählmuster nicht mehr als widersprüchlich zu begreifen.

Neue Geschichten, die noch zu erzählen sind

Am Ende geht es um die zentrale Frage: Wie schaffen wir es denn nun, die Welt zu retten? Wir müssten einerseits die Mythen aufdecken, die die wahren Urheber der Klimakrise decken. Wir brauchen darüber hinaus aber auch neue, positive, konstruktive Erzählungen, die einen Ausweg weisen. „Die Rettung der Welt in kleinen Schritten erzählen“, so die Autor*innen, sei heute wichtiger denn je. Um die Pandemie und Lösungsansätze zu verstehen, kommen wir mit den hergebrachten Mustern von Antagonismus und Reduktion von Komplexität nicht mehr weiter. Ambiguitätstoleranz, das Verstehen und Akzeptieren von Mehrdeutigkeiten, müsste die Geschichten ausmachen, offene Enden statt einfacher Scheinlösungen. 

Und wir sollten dabei, anders als wir es gewohnt sind, Geschichten aus der Zukunft heraus erzählen. Denn wenn unsere Held*innen sich erst dann auf die Reise begeben, wenn die Bedrohung schon sichtbar ist, ist der Pandemie damit genauso wenig zu begegnen wie der Klimakrise. Aus dem „Es war einmal“ wird also „So wird es sein“. 

Inhaltlich müssten wir zum Beispiel die Urheber des Klimawandels klar benennen, die Mär vom CO2-Fußabdruck als Ablenkungsstrategie mächtiger Konzerne entlarven und die wahren Verantwortlichen benennen. In der Corona-Pandemie sollten wir uns als Kollektiv gegen das Virus formieren, ganz so, wie es auch mit der No-Covid-Strategie in Neuseeland gelungen war: „Fünf Millionen Mitspieler“, die bereit waren, schon bei einem Fall landesweite Maßnahmen zu befolgen – das war die erfolgreiche Erzählung, die sich durchsetzen konnte.

Ich musste an der Stelle an ein Spiel denken, das viele Jahre vor Corona herausgekommen ist. Es heißt „Pandemie“, setzt auf Kooperation statt auf Wettbewerb. Gewinnen können die Mitspieler*innen nur als Kollektiv im Team – schaffen sie es nicht, ein Gegenmittel gegen die Seuchen zu finden, verlieren alle.

Können Geschichten ein Mittel sein, uns auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören? Lassen sich wirklich alle auf Kooperationen ein, finden wir ein gemeinsames Ziel? Es wären in jedem Fall Geschichten, die noch zu entwickeln sind. Das ist der Auftrag, mit dem uns das Buch entlässt.

Die erzählenden Affen brauchen Zugang zu Wissen und Erkenntnis

Am Ende der Reise angekommen und wieder herausgetreten aus dem Kosmos der Erzählungen, frage ich mich jedoch, ob neue Erzählungen wirklich ausreichen. Es sind nicht nur die Narrative, die uns prägen, sondern auch das, was wir ihnen entgegenzusetzen haben. Warum sind einige Menschen empfänglicher für Verschwörungserzählungen als andere? Weil ihnen gewisse Korrektive der Vernunft und Rationalität nicht zugänglich sind. Wir alle, so formulieren es auch die Autor*innen, könnten falsche und destruktive Mechanismen besser durchdringen, „wären wir besser in Mathe“. Das gilt nicht nur für ökonomische Zusammenhänge. Auch eine Pandemie wie Corona ist in ihren Auswirkungen ohne ein Verständnis für exponentielles Wachstum gar nicht erfassbar, die passende Erzählung nicht erzählbar oder auch nicht zu verstehen.

Die erzählenden Affen müssen also auch zu wissenden Affen werden. Wie das gelingen kann, ist neben Fragen des Zugangs zu Wissen und Erkenntnis auch ein Thema der zeitlichen Ressourcen.

Ein Auftrag an öffentliche Geschichtenerzähler*innen

In einem über 400 Seiten starken Buch haben Samira el Ouassil und Friedemann Karig einen Vorstoß entwickelt, von dem ich mir wirklich wünschen würde, dass er vor allem in der Politik, in der Kulturindustrie und im Journalismus aufgegriffen und weitergedacht wird. Wir brauchen für diese Aufgabe auch eine starke Vernetzung unter den Erzählenden. Alle die, das Buch gelesen haben, werden dazu symbolisch mit einer lustigen Idee aufgefordert. Die möchte ich hier nicht spoilern. Wer neugierig ist, folgt auf Twitter oder Instagram dem Hashtag #erzählendeAffen – und wird sich vielleicht erst einmal wundern.

Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin, 2021.

Auf die Heldinnenreise war ich übrigens vor der Lektüre des Buchs durch das ausführliche Gespräch im Podcast „Sexy und Bodenständig“ von Alena Schröder und Till Raether das erste Mal aufmerksam geworden. Sie gehen noch ausführlicher als im Buch darauf ein – empfehlenswert wie der ganze Podcast überhaupt.