#Monatsnotiz:  Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.

Im Monat Mai pendelte ich wie schon in den Monaten zuvor zwischen verschiedenen Orten, einer davon meine Heimatstadt Gütersloh in Nordrhein-Westfalen, wo im Mai ein neuer Landtag gewählt wurde. Das war der Aufhänger für gleich mehrere Texte in der taz – dieser hier von Christoph Höhtker (Jahrgang 1967, Bielefeld) beschreibt wie kein anderer mein Lebensgefühl als Weggezogene, als „Auslandsnordrheinwestfalin“.

„Soll ich wirklich schreiben, dass ich niemals zurückkehren werde? Dass ich dieses Land trotzdem jederzeit gegen den ganzen anderen Schrott verteidigen würde? Denn in Wirklichkeit ist Nordrhein-Westfalen alles andere als bescheiden. (…)

Seit vielen Jahren sage ich: ‚Ihr in NRW.‘ Seit vielen Jahren lüge ich.“

Christoph Höhtker in taz am 15. Mai 2022

Das Wechseln zwischen den Orten produziert eine Form von Sprunghaftigkeit, die sich in meinen Lektüren abzubilden scheint. Ich habe parallel mehrere sehr gute Bücher gelesen, hätte am liebsten über alle geschrieben, was ja immer eine tiefere Auseinandersetzung zur Folge hat. Ich nehme für erste Gedanken das Buch von Britta Sembach und Susanne Garsoffky hier heraus. Ein Disclaimer: Britta ist eine gute Freundin von mir. 

Buch „Die Kümmerfalle“

„Die Kümmerfalle: Kinder, Ehe, Pflege, Rente – Wie die Politik Frauen seit Jahrzehnten verrät“ ist die dritte gemeinsame Veröffentlichung der beiden Journalistinnen Britta Sembach und Susanne Garsoffky. Sie plädieren darin für mehr und breite Anerkennung der Care-Arbeit in unserer Gesellschaft. Sie zeigen, wie Frauen aktuell in eine Falle tappen, wenn sie sich entscheiden, in der Familie die Hauptverantwortung für die Sorgearbeit zu übernehmen und dafür beruflich zurückzustecken. Offensiv und kämpferisch fordern die beiden, Erziehung, Hausarbeit, Pflege – Leistungen also, ohne die unsere Gesellschaft gar nicht existieren könnte – müssten finanziell und auch vom Ansehen her aufgewertet werden. Diejenigen, die sie übernehmen, sollten besser abgesichert sein, sei es nun als Familienmitglied oder aber professionell. 

Ich kann das Buch empfehlen, weil es, wie immer bei den beiden, sehr gründlich recherchiert ist, viele interessante Studien und viel Stoff für Diskussionen liefert. Für mich hat sich die Frage nach dem Image der fürsorgenden Tätigkeiten in unserer Gesellschaft als zentral herauskristallisiert, denn gäbe es eine höhere Anerkennung für diese Tätigkeiten, so würden sich einige Probleme von selbst lösen. Es hätte eine gewisse Selbstverständlichkeit, dass Männer und Frauen neben ihren beruflichen Aufgaben noch Care-Arbeit übernehmen wollen und müssen, dass diese Aufgaben anspruchsvoll und wichtig sind. Entsprechend würde viel mehr darüber gesprochen und Rücksicht darauf genommen. Stattdessen hat man sich der irrigen Vorstellung hingegeben, mit Ganztagsschulen und dem Ausbau der professionellen Pflege sei das Wesentliche getan. Ist es nicht. Das wissen alle, die versuchen, Job und Familie und vielleicht auch noch Fürsorge, Pflege für alternde Eltern zu vereinbaren. 

Wenn wir bei einer 50:50 Teilung zwischen Männern und Frauen ankämen, würde sich vermutlich einiges schneller ändern, auch weil dann von zwei Seiten der Ruf nach Veränderung käme und Menschen (Männer) in entsprechender Position und Verantwortung andere Entscheidungen träfen (Gesetze, Personalplanung, Arbeitszeiten, Entlohnung etc.). Ich sehe hier durchaus erste Entwicklungen. Und ich bin auch immer wieder erstaunt, zu hören, wie weit verbreitet das klassische Modell noch ist: „Papa arbeitet in Vollzeit, Mama in Teilzeit und übernimmt dazu im Wesentlichen den Haushalt und die Erziehung. In meinem Umfeld sieht das anders aus, ein Großteil der Männer ist an den Care-Arbeiten wesentlich bis 50:50 beteiligt. Aber das ist eben noch lange nicht Normalität.

Verantwortungsgemeinschaft als Erweiterung der Kleinfamilie

Ich hätte es für die Debatte noch wichtig gefunden, den Rahmen der klassischen Kleinfamilie auch mal zu verlassen, denn die ist spätestens dann überfordert, wenn die „Generation Sandwich“ sich neben den eigenen Kindern auch noch um die Eltern kümmert. Erste Ansätze dazu gib es auch im Buch, wenn die Autorinnen vorschlagen, zu Zeiten des Lockdowns in der Pandemie hätten auch Studierende oder Senioren in die Betreuung der Schulkinder eingebunden werden können. Ich kann mir vorstellen, dass wir die Grenzen der Familien auflösen und neue Modelle nicht nur leben, sondern auch fördern sollten. Dann ließen sich die Aufgaben besser verteilen, statt Familien damit zu überfordern bzw. die Care-Arbeit an Dienstleister zu vergeben. Warum nicht auch den Nachbarn einbinden, die Freundin, den Mitbewohner, Tante und Onkel, wenn die das möchten? Im neuen Koalitionsvertrag gibt es eine Vereinbarung, auch diese nicht-familiären Verbindungen als Verantwortungsgemeinschaft besser abzusichern, allerdings fehlen da noch konkrete Überlegungen zur Ausgestaltung.

Sehr bezeichnend finde ich, wie sehr sich in einem Streitgespräch im Deutschlandfunk ein Vertreter der Katholischen Kirche gegen diese Verantwortungsgemeinschaft ausspricht, mit der Begründung, die Ehe biete den Sorgenden, insbesondere den Frauen, einen besseren Schutz. Er sollte dringend mal „die Kümmerfalle“ lesen, denn diese Scheinsicherheit der Ehe ist dort zentrales Thema. Im Falle einer Trennung kommen Frauen vor allem seit dem „Frauen-Wegwerf-Gesetz“ oftmals in arge finanzielle Nöte, wenn sie sich bis dahin auf die Fürsorge fokussiert haben. Aber Trennung ist ja auch eigentlich gar nicht vorgesehen im heiligen Bund der Ehe.

Ein schönes Podcast-Gespräch zur „Kümmerfalle“ mit Britta Sembach in „Fix und vierzig“ mit Gunda Windmüller und Katja Berlin.

Roman

Kristine Bilkaus neuen Roman „Nebenan“ hatte ich mir nach dem Erscheinen Anfang des Jahres aufbewahrt für die Maiferienwoche. Ich habe ihre ersten beiden Bücher sehr gern gelesen, ich liebe ihren klaren Stil, ihre feinen Beobachtungen – und ich war auch diesmal wieder sehr nah bei ihren Figuren, die Kristine Bilkau mit so viel Zuneigung entwirft. Figuren, deren Innenleben für mich den Großteil der Spannung ausmacht. 

Und ich habe, vielleicht geprägt durch die Gedanken um das Kümmern jenseits der Kernfamilien, viel dazu in dem Roman gefunden. Es gibt eine wunderschöne Szene: Die Protagonistin Julia entdeckt in ihrem Garten eine alte Frau, eine Nachbarin, die ihr leicht verwirrt erscheint. Sie sucht nach zwei Mädchen, ihren Kindern – so vermutet es Julia. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Frau zu sich ins Haus holt, ihr Tee kocht, eine Decke gibt, die liebevolle Art, in der sie sich in diesem Moment einfach um sie kümmert – genau das ist für mich ein Entwurf einer Erweiterung der familiären Fürsorge aus der Nachbarschaft.

Podcasts

Kümmern, das bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass Kinder sich gesund ernähren können. Vielen Eltern in Deutschland fehlt dazu das notwendige Geld. Der Journalist und ehemalige Geschäftsführer der Verbraucherorganisation Foodwatch, Martin Rückert, berichtet im Dissens-Podcast, wie weitreichend die Folgen einer mangelhaften Ernährung sind:

„Wenn Eltern sich keine gesunde Ernährung leisten können, sinken die Chancen auf eine gesunde Entwicklung, körperlich wie geistig. Daran hängt der Bildungserfolg hängen die Lebenschancen von Kindern; das prägt ihr Leben als Erwachsene.“

Martin Rückert, „Dissens-Podcast“, 18. Mai 2022

In seinem Buch „Ihr macht uns krank – die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“ klagt Martin Rückert die Tatenlosigkeit der Verantwortlichen genau wie die Skrupellosigkeit der Interessensvertreter*innen der Ernährungsindustrie an und zeigt die Folgen für Verbraucher*innen und Umwelt. Er greift darin auch die Mängel der Krankenhausernährung auf, die Patient*innen krank macht, statt sie bei der Genesung zu unterstützen. Aktuelle Recherchen von Martin Rückert zu diesem Thema lassen sich auch beim Online-Portal Medwatch lesen.  

Dass Menschen in einem Land wie Deutschland unter Mangelernährung leiden müssen, ist nicht nachvollziehbar, ein großer Fehler im System, der mich wütend macht – noch mehr, wenn es Kinder betrifft. Das Buch finde ich wichtig und habe es auf meine Liste genommen.

In der letzten Monatsnotiz hatte ich im April über die neue Bedeutung von Trost gesprochen, als Nachtrag dazu empfehle ich das schöne Gespräch im Podcast „Sexy und Bodenständig“ von Alina Schröder und Till Raether, die den Essay von Hanna Engelmeier „Trost. Vier Übungen“ gelesen haben und es den Hörenden sehr ans Herz legen. Ich habe das kleine Buch ebenfalls auf meine Liste gesetzt. „Ist tröstliche Literatur Trivialliteratur, und wenn ja, was spricht überhaupt dagegen?“ fragen die beiden Hosts im Podcast. Wie immer in diesem Podcast ein liebevoll-ironisch-heiteres Gespräch, das als solches schon tröstlich ist. 

Direkt anknüpfend die nächste Empfehlung: Warum werden Romane und Serien von Frauen überhaupt immer wieder als „Guilty Pleasures“ herabgewürdigt? Unter anderem darum geht es im Gespräch von Mascha Jakob mit der Schriftstellerin Berit Glanz im Podcast „Dear Reader“ – einer meiner Favoriten unter den Literaturpodcasts. Ein sehr schönes Gespräch, Berit Glanz berichtet unter anderem über ihr letztes Buch „Automaton“ und erklärt, wie in Zeiten des Medienwandels Chats und Emoticons Einzug in die Literatur finden.

„Quoted“ heißt der relativ neue Medienpodcast mit den Hosts Nadia Zaboura, Kommunikationswissenschaftlerin, und Nils Minkmar, Journalist. Er entsteht im Auftrag der CIVIS Medienstiftung für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa und der Süddeutschen Zeitung. Die erste Mai-Folge greift das Thema öffentlich-rechtlicher Plattformen auf und zeigt, wie wichtig hier eine Lösung wäre. Denn angesichts von Hass, Verschwörungserzählungen und der Verstärkung antidemokratischer Bewegungen durch Facebook und Co stellt sich die Frage immer dringender, ob die öffentlich-rechtlichen Sender die privaten Plattformen weiter mit ihrem Content beliefern sollten oder nicht eine Alternative aus dieser Hand mehr als überfällig wäre. Zu Gast in der Folge ist Leonhard Dobusch, Mitglied des ZDF-Fernsehrats für den Bereich Internet und Professor für Organisationswissenschaft an der Universität Innsbruck.

Ein interessantes Gespräch über das Gehen ist in einer April-Episode des ZEIT-Wissen-Podcasts „Woher weißt du das?“ zu hören: In „Läuft doch! Das Wunder des Gehens“ geht es um „Schritte, das Wandern und den Takt. Wie bewegt uns Musik? Und wie geraten wir beim Laufen in den Flow“?

Die Folge hat mich im Mai für eine neue Folge von „Lob des Gehens“ inspiriert, der in den letzten Monaten wegen Mangels an Zeit etwas ruhen musste. Endlich! Das Ergebnis wird im Juni zu hören sein, ich habe mit der ZEIT-Journalistin Hella Kemper über ihre Deutschlandwanderung gesprochen. Dabei bin ich auch auf ihr Buch „Leben an der Elbe“ gestoßen: „Beobachtungen einer Elbschwimmerin im Lauf des Jahres“. Sehr schön, sehr sinnlich. Bemerkenswert war, dass ich das Buch in einer „zu verschenken“-Bücherkiste direkt vor unserer Haustür entdeckt hatte – und zwar genau einen Tag nachdem ich den Podcast gehört und im Netz über das Buch von Hella Kemper gelesen hatte und es am folgenden Tag gleich bestellen wollte.

Arbeit

Meine erste Dienstreise seit dem ersten Lockdown vor mehr als zwei Jahren führte mich nach Bochum an die dortige Ruhr-Universität-Bochum. Ich war beeindruckt vom Campus und den vielen Möglichkeiten der Begegnung und habe mein Bild von der hässlichen Betonwüste revidiert. Für die Aufgabe, die uns in den kommenden Monaten noch mehrere Male ins Ruhrgebiet führen wird, war es sehr wichtig, vor Ort einzutauchen und mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen.

Seit vielen Jahren gehöre ich dem Fachbeirat der Studiengänge Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation(BA) sowie Angewandte Kommunikationswissenschaft (MA) der Fachhochschule Kiel an. Und nach einigen ZOOM-Vorträgen vor Studierenden in den letzten beiden Jahren war auch hier zum ersten Mal wieder die Möglichkeit einer Live-Begegnung vor Ort. Eine Gruppe von Studierenden hat uns in der Agentur besucht, und ich fand beeindruckend, wie schnell wir zu Haltungsthemen kamen und die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Arbeit aufgeworfen wurde. Ich spreche schon seit vielen Jahren immer wieder mit Studierenden in dieser Art von Veranstaltungen, hatte aber den Eindruck, dass sie diesmal eine noch klarere und vor allem auch selbstbewusste Vorstellung davon mitbrachten, wie wichtig ihnen selbst der viel zitierte „Purpose“ für ihre Arbeit ist.

Beim Stammtisch Wissenschaftskommunikation ging es um Social Media und wie Institutionen sich für diese Aufgabe noch besser organisieren können. Es war ein sehr guter Austausch mit den beiden Expert*innen Hannah Schifko und Marcel Bülow. Ihre Empfehlungen und Tipps sind im Blogbeitrag nachzulesen.

Am Vorabend zum bundesweiten Digitaltag (24. Juni) startet die Westermann-Gruppe eine neue Kampagne mit drei größeren Veranstaltungen, die wir in der Agentur konzeptioniert habe und auch in der Umsetzung unterstützen. Am 23. Juni, am Vorabend des Digitaltags, wird die Politologin und Science-Fiction-Expertin Dr. Isbella Herrmann in einem inspirierenden Vortrag an mehreren Beispielen zeigen, was wir aus Science Fiction für das Bildungswesen lernen können. Weitere Informationen, auch zur Anmeldung für die frei zugängliche Veranstaltung, auf der Website #BildungausderZukunft.

Wir haben unsere Weihnachtsfeier nachgeholt und uns im Team von Mann beißt Hund auf dem kleinen Schiff Hedi zusammengefunden, um tanzend durch den Hafen zu fahren. Was für ein Abend und wie schön, endlich mal wieder gemeinsam zu feiern!

Musik

Auf dem Weg über den Campus in Bochum entdeckte ich ein Veranstaltungsplakat, ein Hinweis auf einen Abend mit Dark Wave und Post Punk. Wie schnell schon ein Liedtitel Erinnerungen, Emotionen und Orte wachrufen kann: 

Vorschau

In den kommenden Monatsnotizen werde ich mich mehr auf Hinweise beschränken und nur kurze Notizen ergänzen, warum ich einen Text, ein Buch lesenswert, einen Podcast hörenswert gefunden habe. Längere Überlegungen, wie die hier zur Kümmerfalle, bekommen eigene Texte. Und: Ich bemerke, dass es mir schwer fällt, über die Arbeit zu schreiben, weil ein Großteil meiner Tätigkeit in der Beratung nicht für die Veröffentlichung geeignet ist – deshalb wird dieser Teil in Zukunft entfallen. Wer sich für unsere Projekte interessiert, kann Mann beißt Hund auf den Social-Media-Kanälen folgen. Grundsätzlich gefällt mir das Format nach einem Jahr weiterhin und ich bin gespannt, wie es sich vielleicht noch verändert.

Termin:

Am Montag, den 20. Juni, spreche ich mit Agatha Klaus von der Deutschen Nationalstiftung und Klara Stumpf von der Toepfer Stiftung darüber, wie wissenschaftliche Themen für mehr Menschen zugänglich werden können und warum das für unsere Demokratie von Bedeutung ist. Wir treffen uns im schönen Hadley’s in Hamburg, die Veranstaltung ist frei für alle Interessierten und beginnt um 19:30 Uhr, Einlass schon ab 18:30 Uhr.