#Monatsnotiz: Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.
„Das ist alles ein Irrtum hier“: In der wunderschönen Buchhandlung Markus in meiner Heimatstadt Gütersloh schenkte man mir im April eine Leinentasche mit diesem Aufdruck. Mein Monatsgefühl.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Eindruck habe, dass die politischen und allgemeinen Entwicklungen so gar nicht in eine gute Richtung laufen. Was neu ist: Bei Trump, Brexit, der Ignoranz gegenüber den fortschreitenden Folgen des Klimawandels – da hatte ich eine Ahnung, wie es anders aussehen sollte: Trump musste weg, die Engländer*innen hätten sich doch besser für einen Verbleib in der EU entschieden und um die Zukunft unserer Welt zu retten, gibt es immerhin konkrete Vorschläge, wie wirksam die auch immer noch sein können. In diesem verrückten Krieg aber, der ja nur ein einziger Irrtum ist, fehlt mir aber jedes Gefühl dafür, was nun gerade richtig wäre.
Ich sehe mich nicht alleine: Es ist aber wenig beruhigend zu erkennen, dass selbst Expert*innen keinen eindeutigen Plan dafür haben können, wie der Konflikt zu lösen wäre. Beim EuropaCamp der ZEIT-Stiftung am ersten Aprilwochenende gab es Ansätze, Appelle, aber eben auch das sehr offene Eingeständnis, keine Lösung zu haben. Es war offensichtlich, wie festgefahren und wie ernst die Lage ist. Besonders nachgewirkt hat bei mir das Panel, in dem Galina Yanchenko, Abgeordnete im ukrainischen Parlament, zugeschaltet war und deutliche Vorwürfe in Richtung der deutschen Regierung formulierte. Ihr Gesicht war in der Zuschaltung in Großaufnahme zu sehen – eine einzige Anklage und viel Leid. Unmöglich, sich dem zu entziehen. Das versuchten die Angesprochenen auf dem Podium dankenswerter Weise nicht. Mir ist die ganze Tragik dieses Krieges selten so bewusst geworden wie in dieser Runde – online nachzusehen hier, wie auch weitere Programmpunkte der Veranstaltung.
Maximilian Buddenbohm war auch beim EuropaCamp und bringt mit einem Zitat von Frau Herzbruch sehr treffend auf den Punkt, wie die Diskussion dieses Panels sicherlich viele aus dem Publikum zurückgelassen hat:
Die online zuhörende Frau Herzbruch twitterte, dass sie froh sei, nicht zuständig zu sein. Das ist ein lapidarer Satz, den man vielleicht im Alltag mehr würdigen muss, denn was haben wir für ein Glück, nicht zuständig zu sein, wie unlösbar ist diese Aufgabe und was für ein fragiler Segen ist es, nur überlegen zu müssen, was ich morgen wieder koche.
(Transparenzhinweis: Das EuropaCamp ist ein Projekt unserer Agentur für die ZEIT-Stiftung, Maximilians Text ist im Rahmen einer Kooperation entstanden).
Trost
Jonas Weyrosta hat in der ZEIT (Paywall, deshalb hier ein paar Zitate daraus) einen Text über den Trost in Zeiten der aufeinanderfolgenden Krisen geschrieben, den ich sehr gut fand, weil er ein Gegenmodell zum „Alles wird gut“-Modus entwirft, der in den letzten Jahren nun doch etwas obsolet geworden ist. Er beschreibt eine Lösung aus der Hilflosigkeit derjenigen, die die Krisen erleben, aber „ein wenig aus der Distanz“ betroffen sind. Eine Lösung, die jenseits des Dualismus von Optimismus und Pessimismus verortet ist: Trost.
Könnte es sein, dass wir das Trösten angesichts der vielen überbordenden Krisen um uns herum neu lernen müssen? Und sei es nur, weil es zum Leben dazugehört, oder auch, weil uns schlicht nichts anderes übrigbleibt?
Jonas Weyrosta, DIE ZEIT, 23. April 2022
Der Soziologe Heinz Bude erklärt in dem Text, wie es kommt, dass wir das Trösten vielleicht wirklich verlernt haben:
Der Trost hat es heute nicht leicht. „Weil wir uns an Hybriskategorien wie Resilienz gewöhnt haben. Selbst aus tiefen Krisen wollen wir gestärkt hervorgehen. Resilienz spielt uns eine Phantomautonomie vor. Wir leiden, aber sollen es als Chance begreifen.“
Heinz Bude, in DIE ZEIT, 23. April 2022
Jonas Weyrosta hat für seinen Text auch mit der Krankenhausseelsorgerin Ilka Wieberneit gesprochen, die berichtet, wie sehr die permanente Distanz in der Pandemie das Trösten erschwert habe. Tragisch, weil das Trösten so wichtig sei:
„Sinnlosigkeit ist Teil unseres Lebens. Wir können nicht jedes Leid begreifen, lösen, wegbehandeln. Manches gehört einfach zum Leben dazu. Dem Leben ausgeliefert zu sein, darüber können wir uns nur hinwegtrösten, man kann es nicht heilen“, sagt Wieberneit.
Ilka Wieberneit, in DIE ZEIT, 23. April 2022
Tandems in der Politik
Neben dem außenpolitischen Geschehen gab es innenpolitisch den Rücktritt der Familienministerin Anne Spiegel. Es ist viel von vielen dazu gesagt worden, was ihre persönlichen Fehler betrifft. Nur einzelne Stimmen waren zu hören, die einen Misstand im System sehen, ein politisches System, in dem die Fürsorge für die Familie und die Verantwortung des Amtes schwer bis gar nicht vereinbar sind. Möchten wir wirklich von Politiker*innen erwarten, dass sie mit der Annahme von politischer Verantwortung die Fürsorge für ihre Familie, Eltern und Partner selbst in Krisensituationen anderen überlassen müssen? Ich habe mich zum wiederholten Male gefragt, warum wir eigentlich in der Politik keine Tandemlösungen zulassen, wie sie in einigen Jobs und inzwischen auch in Parteien auf Führungsebene gut funktionieren. Und ich war damit nicht alleine:
Sehr interessant fand ich, welchen Artikel mir Google vorschlug, als ich nach den Begriffen Tandem und Politik gesucht habe: Ein Text aus dem Jahre 1966 ! aus der ZEIT: „Der zweite Mann im Minister-Tandem.Von den Schwierigkeiten eines neuen Amtes“. Es lohnt sich, den Text zu lesen, denn offenbar war schon damals klar, dass das Amt eines Bundesministers (von Frauen ist 1966 noch keine Rede) von einer Person alleine nicht zu bewältigen ist. Von einer gleichberechtigten Lösung, wie sie ein Tandem bedeuten würde, war man damals so weit entfernt wie heute. Aber schon damals war klar, dass eine Verteilung auf mehrere Schultern sinnvoll wäre. Lesenswert übrigens auch, weil der Stil des Textes von Werner Höfer sich heute so schön in die Jahre gekommen liest. Den richtigen Gedanken von damals heute wieder aufzugreifen und ihn mit einer zeitgemäßen Lösung eines gleichberechtigten, mehrgeschlechtlichen Tandems weiterzuführen – ist doch längst überfällig, oder?
Alternativen zu Twitter?
Die Idee ist gut, aber die Zeit noch nicht bereit – das war vor gut drei Jahren auch mein Fazit, als ich mich bei Mastodon angemeldet hatte, einem dezentralen Netzwerk als Alternative zu Twitter. Nun hat Elon Musk Twitter aufgekauft und alle Aktien übernommen. Ein weiteres Soziales Netzwerk liegt damit in den Händen eines wenig berechenbaren, launischen und exzentrischen Menschen. Was das für die Kommunikation auf Twitter bedeutet, ist schwer vorhersehbar. Es zeigt aber ein weiteres Mal, wie wichtig eine Alternative in öffentlich-rechtlicher Hand wäre. Leonard Dobusch, Professor für Organisation an der Universität Innsbruck, wissenschaftlicher Leiter des Momentum-Instituts in Wien und ZDF-Verwaltungsrat, macht in einem Gastbeitrag in der SZ deutlich, was die Voraussetzungen dafür wären. Leider lässt sich jetzt schon ahnen, dass es genau daran weiterhin scheitern wird:
Sind ARD, ZDF und ihre europäischen Partnermedien willens und fähig, ihrem demokratischen Auftrag im Zeitalter digitaler Öffentlichkeit gerecht zu werden? Werden sie digitale Technologien dafür einsetzen, sich dem eigenen Publikum gegenüber zu öffnen, dem bislang kaum Kanäle für Rückmeldung und Interaktion offenstehen? Und werden sie mit anderen gemeinnützigen Medien und Plattformen auf Basis offener Software und Standards ein öffentlich-rechtliches Ökosystem im Netz aufbauen?
Leonard Dobusch, SZ
Bücher
In oben genannter Buchhandlung bin ich wieder auf das Buch von Wibke Ladwig gestoßen, „Heimbürokantine“, das schon lange auf meiner Wunschliste stand. Der kleine Band ist ein Seelentröster, wie eine andere Leserin es formulierte. Wenn Wibke über Kochen, Nahrung und Essen schreibt, dann spricht aus jedem Satz eine Hochachtung vor diesen vielen Schätzen, die es für den Teller zu entdecken gibt. Das gesamte Buch mit kleinen Essays zu Lebensmitteln, Erinnerungen, Zubereitungsformen und besonderen Situationen des Kochens ist das konkrete Gegenmodell zu „Convenience food“: Es geht darum, dem Essen und seiner Zubereitung den Raum, die Kreativität und auch die Zeit schenken, die sie verdienen. Ich empfinde das als ebenfalls sehr tröstlich und kann gut nachvollziehen, dass Wibke in der Pandemie die Heimbürokantine eröffnet hat, um sich „Arbeit und Struktur“ zu geben (siehe auch Musik). Impressionen zur #Heimbürokantine gibt es unter dem Hashtag immer wieder bei Instagram bei @sinnundverstand – Wibke ist dort auch mit Insta-Live-Koch-Events zusammen mit dem Hädecke-Verlag zu sehen, in dem das Buch erschienen ist.

Bei einem Besuch in der Heimat stieß ich auf das kleine Buch von Jean Echenoz über den Läufer Emil Zátopek, der tschechischen Lokomotive. Ein wunderbarer Text, nicht nur für Läufer*innen – ich habe drüben bei Instagram aufgeschrieben, was mich so berührt hat: Dieser sympathische Mensch ist so sehr bei sich, dass auch der Widerstand im Prager Frühling viel weniger als Heroentat, sondern vielmehr als Notwendigkeit erscheint – genau wie das Laufen. So liebevoll geschrieben, gut zu lesen.
Podcasts
In Folge auf das Podcast-Gespräch mit Christoph Stöcker über Exponentielles Wachstum habe ich mich im April mit meinem Co-Moderator von „Hamburg hOERt ein HOOU“, Christian Friedrich, zu einem Nachgespräch getroffen und die Themen der Folge noch mal weitergedreht und vertieft. Das war ein Experiment und wir freuen uns über Resonanz!
„Piratensender Powerplay“: Ich habe den Podcast hier schon mal empfohlen und wiederhole mich gerne: Ich finde es sehr bereichernd, von den beiden die Analysen ausgewählter Ereignisse der Woche zu hören. Man fühlt sich jedes Mal gut aufgehoben, ernst- und mitgenommen. Ab sofort lässt sich der Podcast bei Steady auch unterstützen – Abonennt*innen erhalten Zugang zu einer thematischen Extrafolge jeweils am Dienstag.
Ich bin eigentlich gar keine Hörerin von True-Crime-Stoffen und habe mich dennoch durch die acht Folgen der gut erzählten Reihe „Das System Söring“ durchgehört. Der Podcast rekonstruiert die Geschichte eines deutschen Diplomatensohns, des wegen zweifachen Mordes an den Eltern seiner damaligen Freundin in den USA verurteilt worden war. 2019 wurde er aus einem US-amerikanischen Gefängnis auf Bewährung entlassen und nach Deutschland ausgeliefert. Schon aus dem Gefängnis heraus hatte er versucht, gemeinsam mit einem Netzwerk von Unterstützer:innen, die Öffentlichkeit von seiner Version der Ereignisse zu überzeugen – er hat das „System Söring“ aufgebaut. In Deutschland angekommen erfuhr er dabei direkte Unterstützung verschiedener Medien und Talk-Shows, die seine Version der Geschichte weitestgehend unkritisch übernahmen. Wie er seine Erzählung aufgebaut hat, erzählen die Folgen nach und nach – wie diese von vielen Medien und einzelnen Prominenten in Deutschland übernommen wurde, ist in der letzten Folge Thema. Sie macht die Reihe vor zu einem wichtigen Beitrag zur Medienkritik und als solche den Podcast insgesamt empfehlenswert, auch wenn ich die ersten sieben Folgen in ihrer Detailtiefe teilweise schwer erträglich fand. Wer sich das ersparen will, kann auch den Text zum Podcast bei Übermedien von Stefan Niggemeier lesen, der die Medienkritik in den Vordergrund stellt.
Arbeit
Für die Deutsche Nationalstiftung begleiten wir bei Mann beißt Hund nun schon im dritten Jahr die Verleihung des Deutschen Nationalpreises, der in diesem Jahr an den Grünen-Politiker und DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz geht. Ein weiterer Förderpreis geht an den Sender OstWest TV mit Sitz in Berlin, einer der wenigen Sender in russischer Sprache, der noch unabhängig und kritisch berichten kann. Die Ausgezeichneten erhalten ihre Preise im Juni bei einer offiziellen Preisverleihung. Nach zwei Jahren wird es für uns die erste Live-Preisverleihung, die wir unterstützen. (Pressemitteilung der Deutschen Nationalstiftung)
Parallel planen wir für den Sommer erste vor-Ort-Workshops mit einer Hochschule im Ruhrgebiet und freuen uns darauf – nach so langer Zeit mal wieder ein neues Gefühl.
Ansonsten ist Corona bei uns nicht vorbei – wir haben, wie viele Einrichtungen und Unternehmen, weiterhin mit Ausfällen durch COVID-Infektionen, Kitaschließungen und Erkrankungen zu tun. Zum Glück ist das Verständnis überall da, weil es eben alle anderen genauso geht – das dritte Pandemiejahr bleibt eine Herausforderung, das geht in dem Glück über die Öffnungen manchmal etwas verloren.
Musik
Ganz neu: Hotel Rimini. Arbeit und Struktur.
Immer wieder und im April sehr viel gehört, wie schon in der Monatsnotiz März: Stephan Eicher, le sourire.