#Monatsnotiz:  Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.

Anomalien in einer „anderen Welt“?

Wut, Hilflosigkeit, Sorge – und Fluchtgedanken verschiedenster Art, die sich aktuell vor allem darin ausleben, den Krieg und das, was damit zusammenhängt, immer wieder beiseite zu schieben, mich dem Alltag, der „Normalität“ zu widmen. Das markiert die zweite Februarhälfte, und ich kann mich schon gar nicht mehr genau erinnern, was vorher war. Die Gedanken sind voller Widersprüche. „Nicht mein Krieg, ich mache da nicht mit“, sagt alles in mir. Wissend, dass auch ich Teil der Geschehnisse bin, die ihn möglich gemacht haben. Und dass es ein Privileg ist, das aktuell noch denken zu können, denn die Menschen in der Ukraine haben nur noch die Alternative zwischen Bleiben und Fliehen und sind in jedem Fall Opfer dieses schrecklichen Krieges.

Nils Minkmar zitiert in der Süddeutschen Zeitung (€) Franz Kafka: 

Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt – nachmittags Schwimmschule.

Franz Kafka, Tagebucheintrag am 2. August 1914

Nils Minkmar bringt in dem Text wunderbar das Lebensgefühl in diesem Februar auf den Punkt – genauer auf den Gedankenstrich -, das ich bei mir und so vielen um mich herum beobachte.

Der Star des Satzes aber ist der Gedankenstrich zwischen Weltgeschichte und persönlicher Sorge. Er ist auch das Symbol unserer Februartage, mehr als 100 Jahre später, in einer anderen Moderne als der Kafkas: Jede Alltagsgeste, jede Besorgung wirkt heute entweder übertrieben symbolisch oder eben deplatziert.

Nils Minkmar, Süddeutsche Zeitung, 25. Februar

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Anna Lena Baerbock am 24. Februar. Ist die Welt anders oder sind wir nur aufgewacht? Die Frage (von Friedemann Karig in der Folge „Krieg“ des Podcasts Piratensender Powerplay) ist berechtigt genau wie der Satz unserer Außenministerin richtig ist. Dieser scheinbare Widerspruch beschreibt sehr gut die kognitive Dissonanz, in der wir leben.  

Der Philosoph Clément Rosset hat diese Dissonanz schon 1976 in einem Essay als Kennzeichen der Illusion hervorgehoben („le Reel et son Double“): 

Die Besonderheit des Ereignisses, dessen, was reell geschieht, besteht in der Tat darin, dass es zugleich überraschend und unvermeidlich ist. Wenn die Geschichte voranschreitet, erstaunt sie uns und schlägt uns in ihren Bann, während sie doch einer unerbittlichen Logik folgt und uns die Ursachen für die wichtigsten Entwicklungen seit langem vor Augen lagen.

Clément Rosset, zitiert nach Alexandre Lacroix im Philosophie Magazin

Das erinnert mich an meine Monatsnotiz für November, als viele davon überrascht waren, dass nun doch eine weitere Welle des Corona-Virus auf uns zugekommen war – auch hier waren die Ursachen für die Entwicklungen vorher ausreichend lange sichtbar gewesen, nur wollte ein Großteil, wollten Verantwortliche sie nicht sehen.

Wir wissen also was passieren wird, sind dann aber über die Realität doch immer wieder überrascht, schockiert? Wir haben da ja durchaus noch ein paar weitere Schocks in der Pipeline, Stichworte Klimawandel, Artensterben, weitere Coronawellen. Und natürlich gab es auch bis heute schon Kriege. Mit denen haben wir bislang leben können, bis wir eines Morgens im Februar in dem Krieg aufwachten, der uns nun sehr sehr nahe kommt.

Meine bislang eher optimistische Grundhaltung zu bewahren, fällt mir in diesen Wochen erstmals sehr schwer, wenig erstaunlich. Und doch bin ich noch nicht in das Lager der Pessimist*innen gewandert. Wenn ich meine Hoffnung noch nicht aufgeben mag, ist das vielleicht aber auch nur eine Form der Bequemlichkeit.

Der wirkliche Pessimist weiß, dass es schon zu spät ist, um noch Pessimist zu sein.

Viktor Miesel in „Die Anomalie“

Viktor Miesel ist eine Figur in meinem Roman des Monats, in dem die oben beschriebene kognitive Dissonanz ebenfalls ein Thema ist: Die Anomalie von Hervé le Tellier. Es hat bereits im letzten Jahr in Deutschland viel Aufmerksamkeit erfahren, wurde 2020 in Frankreich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Für mich ist es das Buch dieser Zeit. Eine großartig konstruierte Geschichte, in der ein Flugzeug zweimal landet, einmal im März, dann noch einmal im Juni. Die Passagiere sind identisch, mit der Landung im Juni existieren sie doppelt. Die Reisenden, die im Juni landen, begegnen ihrer eigenen Identität, die drei Monate mehr erlebt hat, als sie selbst. Das führt zu sehr individuellen Geschichten und lädt vor allem ein zu philosophischen Exkursen, die an einige Stellen dem erstaunlich nahe kommen, was ich oben beschrieben habe. Der Schriftsteller Miesel erklärt, sich auf Nietzsche berufend, die Hoffnung als das schlimmste Übel aus der Büchse der Pandora: 

„Denn es ist die Hoffnung, die uns verbietet zu handeln, es ist die Hoffnung, die das Unglück der Menschen verlängert, denn, nicht wahr, entgegen aller Evidenz ‚wird alles schon gutgehen‘. Es kann nicht sein, was nicht sein darf“.

Neben einzelnen philosophischen Betrachtungen ist „Die Anomalie“ zugleich Thriller, Satire, Science-Fiction und unglaublich gut konstruiert. Mich hatte die Besprechung im Schweizer Buchclub im letzten Jahr darauf aufmerksam gemacht, wo auch empfohlen wird, das Buch zweimal zu lesen. Den Wunsch empfinde ich nach der Lektüre.

Podcasts

Unter dieser Rubrik fällt mir nun wieder ein, was in der ersten Februarhälfte war. Es hat sehr viel geregnet. Jeden Tag. Sehr passend, wohl zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das erfreut beobachtet, denn in meinem Podcast „Lob des Gehens“ habe ich mit Christian Sauer über „Gehen im Regen“ gesprochen. Ich habe meine Einstellung zum Regen tatsächlich ändern können, nicht erst durch das Buch von Christian Sauer. Es war ein längerer Prozess, der zu wie ich finde guten und gesunden Form der Gelassenheit führen kann – ich berichte davon im Gespräch. Das Wetter ist eine gute Schule, weil so offensichtlich ist, dass es wenig Sinn macht, sich daran abzuarbeiten. („Eine Liebeserklärung an das Wetter, wie es ist“, lautet auch der Untertitel des Buches.)

Für aktuelle Hintergründe schätze ich gerade sehr den Politik-Podcast des Deutschlandfunks, besonders, wenn ehemalige und aktuelle Korrespondent*innen aus Russland mit diskutieren. Die Folge vom 23. Februar zur Frage „Wie weit geht Putin?“wurde als Twitter-Space aufgenommen, so dass auch Hörer*innen ihre Fragen einbringen können, eine Bereicherung, zugleich der Beweis, dass das Live-Tool von Twitter inzwischen gut für Live-Podcast-Aufnahmen funktioniert.

Ich freue mich sehr auf den neuen Podcast „Ohrensessel“, in dem Carina Schroeder und Sandro Schroeder über Podcasts sprechen werden. Sandro schreibt bereits bei Übermedien regelmäßig Podcastkritiken und gibt auch einen Newsletter heraus, den ich Podcast-Interessierten sehr ans Herz legen kann. Carina Schroeder hat vor Kurzem bereits im Deutschlandfunk-Podcast „Über Podcast“ in einer hörenswerten Folge für Orientierung im Podcast-Dschungel gesorgt und mit Gäst*innen besprochen, wie sich die wahren Perlen finden lassen. Die Suche danach macht für mich einen der Reize beim Podcasthören aus. Ich habe zum ersten Mal erfahren, dass es einen Podcast-Bibliothekar gibt, der in der Folge zu Gast ist. Orientierung und gute Tipps verspreche ich mir auch von „Ohrensessel“ und warte nun auf die erste Episode.

Newsletter

Der immer wieder unterhaltsame Autor und Werbetexter Peter Wittkamp (Gag-Schreiber unter anderem für die „heute-show“) bringt seit Kurzem einen Newsletter heraus. In der aktuellen Folge, die jetzt schon eine März-Ausgabe ist, gibt er Tipps zum gesunden Umgang mit der aktuellen Situation, denen ich mich in meiner Situation als angeschlagener Optimistin aber immer noch nicht überzeugten Pessimistin ganz gut anschließen kann:

Ich habe häufig einen gesunden Optimismus. Ich gehe fest davon aus, dass am Ende alles gut wird. Und selbst wenn am Ende nicht alles gut wird, hatte ich vor diesem Ende eine gute Zeit in der ich dachte, dass alles gut wird.

Ihr wisst, was ich meine! Ich bin wirklich sehr zuversichtlich, dass es keinen „Weltkrieg“ geben wird. Aber für den sehr, sehr, sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es einen geben sollte, möchte ich die Zeit davor nicht damit verschwenden, mich um einen zu sorgen.

Peter Wittkamp, „Wittkamps Woche“ vom 4. März

Arbeit

Zum fünften Mal unterstützen wir das EuropaCamp der ZEIT-Stiftung in der Kommunikation. Vor zwei Jahren musste es wegen der Corona-Pandemie recht kurzfristig abgesagt werden. In diesem Jahr wird es nun, so wie es akutell aussieht, wieder eine Live-Veranstaltung vor Ort in der Internationalen Theaterfabrik Kampnagel geben. Wie genau das Programm aussehen wird, ist einmal mehr durch die aktuellen Entwicklungen beeinflusst. Sicher ist, dass es eine Live-Aufnahme des Podcasts „Lage der Nation“ geben wird, Workshops, politische und auch viele kulturelle Programmpunkte. Ich habe mir das ganze Wochenende (vom 7. bis 10. April) freigehalten.

Wir planen weitere Veranstaltungen und ich darf mich mal wieder intensiver mit Digitalisierung in der Schule beschäftigen. Corona hat hier, so mein aktuell eher anekdotischer Eindruck, hier weniger nachhaltig verändert, als vielleicht in der Arbeitswelt. 

In der Berufswelt hat die Corona-Pandemie jedoch nicht jedoch nur positive Veränderungen hervorgebracht. So würde ich die höhere Flexibilität durch remote work und Online-Konferenzen bewerten, wenn wir uns das Gute davon bewahren. In der Agentur arbeiten wir gerade daran.

In einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung wird deutlich, dass sich die bereits vor der Krise existierenden Ungleichheitsstrukturen in der Krise noch verschärft haben. Unbezahlte Arbeit bei der Kinderbetreuung übernehmen in Deutschland nach wie vor in erster Linie die Frauen, und zwar auch, wenn sie berufstätig sind. Die Expertinnen der Studie sehen einen Rückfall in tradierte Rollenmuster, gleichzeitig in anderen Familien auch eine eher faire Aufteilung der Care-Arbeit. Offensichtlich haben nicht wenige Frauen gerade in der zweiten Welle ihre Arbeit bereitwilliger ihre Stundenzahl reduziert als Männer, weil sie mit der Betreuung der Kinder zuhause beansprucht waren. 

Ich erlebe das in meinem Umfeld nicht und frage mich, was die Ursachen dafür sind. Der Rückfall in alte Aufteilungen war deutlich auch bei Akademiker*innenpaaren zu beobachten. Warum lassen Frauen sich auf diesen Deal ein, vor allem aber: Warum setzen Männer in ihrem Job keine Teilzeitvereinbarungen durch?

Jutta Allmendinger hatte schon zu Anfang der Pandemie mit ihrer Retraditionalisierungsthese vor einem Rückfall in alte Rollenmuster gewarnt – und sieht sich nun anhand von einer ganzen Reihe weiterer Daten leider bestätigt. Dabei geht es nicht nur um die Rahmenbedingungen, die sich für Frauen verschlechtert haben, mindestens genauso beunruhigend finde ich eine veränderte Einstellung der Männer, die zu beobachten ist:

Der Aussage „Eine erwerbstätige Mutter kann ein ebenso inniges Verhältnis zu Kindern aufbauen wie nicht erwerbstätige Mütter“ stimmen gerade ehemals sehr egalitär eingestellte Väter heute weniger als vor der Pandemie zu. Und was noch erschreckender ist: Nur noch 54 Prozent aller Väter befürworten diese Aussage.

Jutta Allmendinger, „Rolle rückwärts“ Zeit online

Mein „Knowledge-Talk“ für die Uni Tübingen zu Thema „Wissenschaft für die ‚breite Öffentlichkeit‘ ist aufgezeichnet worden und ist online verfügbar – ich berichte von Fallbeispielen aus der Praxis und erzähle und diskutiere mit den Teilnehmenden, wie wir verschiedene Zielgruppen auf unterschiedlichen Kanälen erreichen können.

Wir erhalten in der Agentur aktuell weiterhin mehr Anfragen, als wir abdecken können im Team – und suchen weiterhin nach Verstärkung, unser Stellenangebot ist noch aktuell.

Musik

Es gibt jetzt den Song zum Buch „Erzählende Affen“: „Storytelling Animal“, über Narrative, deren Einfluss und Auswirkungen auf die Wahrnehmungen unserer Realität. Einen Großteil dieses Krieges, so nah er uns ist, nehmen wir als Narrative wahr, wie gut, dass das in diesen Tagen immer wieder unterstrichen wird.

Und zum Schluss

Noch mal ein Blick in die Zukunft. Unsere Kinder und Kindeskinder werden es nicht leicht haben. Gefunden über Johanna Seebauer.