Lässt sich ein Leben in 98 Episoden erzählen, wenn diese aus jeweils nur einem Satz bestehen? Und was macht es aus einem Text, wenn die Hauptsatz-Prädikate nur als Infinitiv erscheinen? Ein Versuch der Beschreibung. Die eigentliche Empfehlung aber lautet: Lest dieses Buch!

Nachts nach einem langen Kneipenabend mit einem Begleiter nach Hause zu fahren, die Haustür aufzuschließen, dabei von ihm gesagt zu bekommen, vorher muss ich noch telefonieren, lässt du mich nachher dann rein?; oben in der Wohnung wenig Licht zu machen, auf der Couch zu warten, irgendwann ins Bett zu gehen, wo es wärmer ist, und bereits zu schlafen, als es klingelt. („Besser wird es nicht“, Seite 31, Episode 20)

Silke Stamm hat sich für diese ungewöhnliche Form entschieden, um mit „Besser wird es nicht“ Ausschnitte aus dem Leben einer Frau wie in einer Collage zusammenzufügen. Stark verdichtet, ohne Bewertungen und Erklärungen, müssen die Sätze erst nachklingen, bis sie ihre Bedeutung enthüllen. So beim Tod des jüngeren Bruders, der beim Paddeln „hineinfällt und mit einem Jauchzen untergeht“. Gleich in der ersten Episode die ganze Tragik in einem einzigen Satzteil, in dem starken Bild, das daraus entsteht:

…. mit einem Bruder und dem Vater zur Mutter zurückkehren, die von da an nicht mehr spricht. (Seite 7, Episode 1)

Das Wandern durch die eigene Biographie setzt sich fort mit dem Umzug in die größere Stadt, mit kurzen Momenten von Glück, oftmals Enttäuschungen, mit Begegnungen in Beziehungen, Freundschaften, bei Urlaubsreisen. Kein chronologischer Ablauf ist das, zwischendurch richtet sich der Blick zurück auf die Kindheit und das Studium. Beruf und Arbeit dagegen sind kein Thema. Die konsequente Verwendung des Infinitivs verleiht jeder dieser einzelnen Erinnerungen ein Stück Allgemeingültigkeit für das Leben dieser Frau. Und genauso funktioniert ja Erinnerung: Nicht als Film erscheint der Rückblick auf einzelne Lebensphasen vor unserem inneren Auge, sondern in einzelnen starken Bildern, die sich fest eingepflanzt haben und immer auftauchen, wenn wir zurückdenken.

Silke Stamm entzieht sich rein formal jeder gängigen Form. Für Szenen erscheinen die Episoden viel zu verdichtet; als Momentaufnahmen taugen sie nicht, weil auf jegliche Beschreibungen innerer Gemütszustände oder äußerer Settings verzichtet wird. Diese zu rekonstruieren, zu Bildern zu vervollständigen, bleibt den Leser*innen überlassen. Jedes Wort dieser Ein-Satz-Episoden steht da nicht zufällig, sondern trägt die Bilder, die beim Lesen entstehen. Da ist es gar nicht so erstaunlich, dass Silke Stamm Mathematik studiert hat und dieses Fach als Lehrerin unterrichtet.

Als ich von dem Buchprojekt das erste Mal hörte war ich neugierig, aber auch etwas skeptisch. Ein-Satz-Episoden nur im Infinitiv – das klingt interessant, aber auch anstrengend und fordernd, man könnte scheitern, bei dem Versuch, sie zu erschließen. Doch das Buch zieht direkt in seinen Text hinein. Es entsteht aus all dem, was offen bleibt, eine produktive Spannung.

So schwer, wie der Text mit der ersten Episode eröffnet, so leicht entlässt er uns mit einem Plädoyer, sich auf den Augenblick einzulassen – vermutlich die überzeugendste Variante der „achtundneunzig Arten, eine Antwort zu erhalten“ (so der Untertitel des Buches).

An einem heißen sehr heißen Tag zwischen verschiedenen Erledigungen auch noch das Kind bei seiner Spielkameradin abholen zu müssen, und sich schon auf den Kampf einzustellen, der zu erwarten ist, weil das Kind natürlich keine Lust haben wird (…) dann aber die Einladung, doch auch noch mitzuessen, anzunehmen (…) Pfannkuchen serviert zu bekommen, mit dem Teller auf dem Schoß ins Blau zwischen den Blättern hochzuschauen, Sprudel zu trinken und dem Vater der Spielkameradin zuzustimmen, der sagt, besser wird es nicht mehr. (Seite 148, Episode 98)

Silke Stamm: Besser wird es nicht. Achtundneunzig Arten, eine Anwort zu erhalten. Punktum Verlag, Hamburg, 2017.

Disclosure: Silke Stamm ist eine befreundete Nachbarin von mir. Das Buch habe ich zum ersten Mal gelesen, als es schon erschienen war.

Bemerkenswert neben dem Inhalt finde ich übrigens auch die Gestaltung, wie auch die Tatsache, dass zwei Frauen in diesen Zeiten einen eigenen Verlag gegründet haben, den Punktum-Verlag. Ein Interview dazu im Hamburger Abendblatt.

Das schreiben andere:

Silke Stamm wurde für Vorarbeiten zu ihrem Buch 2013 mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet: ein Auszug aus der Jurybewertung.

Verdichtete Unschärfe, taz, 28.20.2017, von Frank Keil

„Es ist ein Horror, nein, schlimmer, das ganze Leben, wie es so spielt und alles in 98 Kapiteln fein und klein und dabei so groß.“Willi Winkler in Süddeutsche Zeitung, 19. Januar (Paywall)