#Monatsnotiz: Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen, gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite, was ich be-merkenswert gefunden habe.
„Ich könnte niemals mit jemandem schlafen, der mehr Sachbücher als Belletristik im Regal hat.“
Das sagt Maria-Christina Piwowarski, Buchhändlerin und Podcasterin in einem Text für das ZEIT-Magazin im Juli. Ich habe darüber nachgedacht: Aktuell würde es mir schwerfallen, festzulegen, ob Sachbücher oder Belletristik/Literatur für mich wichtiger sind. Es gibt viele Bücher, die mein Denken wesentlich geprägt haben, mich inspiriert haben und meinen Blick auf die Welt tatsächlich verändert haben. Literatur macht das über das Erleben, Sachbücher über das Verstehen. Ich könnte das eine nicht gegen das andere aufwiegen.
Eine Zeitlang war ich davon überzeugt, dass die meisten Sachbücher sich auf ein paar Grundgedanken herunterbrechen lassen, für die man nicht unbedingt ein ganzes Buch lesen müsste.
Das ist auch die Idee von Blinkist, einem Dienst, der damit wirbt, „Kernaussagen aus Sachbüchern in ca. 15 Minuten pro Titel lesen & anhören“ zu können. Ich habe das noch nie ausprobiert und bin auch skeptisch. Nicht nur deshalb, weil der Dienst offenbar darauf verzichtet, die Autor*innen der Bücher in irgendeiner Weise an den Einnahmen teilhaben zu lassen (was legal ist, aber vielleicht nicht immer legitim, selbst wenn die Zusammenfassungen den Verkauf noch stärken könnten).
Ich glaube aber, dass für das Verständnis nicht nur die Kernaussagen eines Buches wichtig sind, sondern dass diese Kontext, Beispiele, Erklärungen, Geschichten und ja, auch die Wiederholung brauchen, damit wir sie verstehen und sie sich einprägen. Zumindest haben sich die Gedanken, das Wissen, das ich Sachbüchern gefunden habe, ganz anders in mir eingepflanzt als kurze Zusammenfassungen, die eher die Funktion eines Teasers haben.
Da es aber weitaus mehr lesenswerte Sachbücher gibt, als ich lesen kann, und da eine gute Auswahl umso wichtiger ist, bin ich sehr froh, dass es Menschen gibt, die über ihre Lektüren dieser Bücher schreiben. Der Investigativ-Journalist Daniel Drepper zum Beispiel gibt seit einigen Monaten den empfehlenswerten Newsletter „Sachbuchliebe“ heraus und stellt darin auch viele englischsprachige Titel vor. Es geht um Politik, Klimawandel, Wissenschaft, Journalismus – durchweg spannende Themen. In Zukunft könnten deutschsprachige Bücher mehr Gewicht bekommen, denn Daniel Drepper ist Mitglied der Nominierungskomission für den NDR-Sachbuchpreis.
Mitglied der Jury zum „Wissensbuch des Jahres“, ausgeschrieben von „Bild der Wissenschaft“, ist die Bloggerin und ehemalige Buchhändlerin Petra Wiemann. In ihrem Blog „Elementares Lesen“ finden sich unzählige Rezensionen zu Sachbüchern, viele mit naturwissenschaftlichem Hintergrund – ebenfalls eine sehr gute Quelle für Buchtipps und eine gute Übersicht über wertvolle Sachbücher.
Bücher
Mein persönliches Sachbuch des Monats war „Gesundheit ist kein Zufall“ von Peter Spork, das schon 2017 erschienen ist, sein neuestes Buch über Systembiologie baut vermutlich darauf auf. Der Wissenschaftsjournalist erklärt verständlich und anschaulich, warum wir uns von der Auffassung verabschieden müssen, unsere Gesundheit resultiere entweder aus genetischer Vorbestimmung ODER aus Einflüssen durch Umwelt und Lebensstil. Bis zur Lektüre des Buches war ich noch durch den Dualismus „nature or nurture“, Umwelt oder Veranlagung, geprägt.
Das Buch hat mein Verständnis nachhaltig verändert. Wie immer hängt alles mit allem zusammen, ich fühlte mich sehr an das Buch über Komplexität von Dirk Brockmann erinnert.
Von den zentrale Aussagen hat sich bei mir eingeprägt: Die Zellen eines Körpers funktionieren nicht alleine nach genetischem Programm, sie „erinnern“ sich auch daran, welchen Umwelteinflüssen wir ausgesetzt sind und waren, ob wir sportlich leben, uns gesund ernähren, welchen Stress wir ausgesetzt sind. Das Erstaunlich daran: Auch diese externen Einflüsse auf die Programmatik der Zelle funktionieren über Generationen hinweg. Das Kriegstrauma der Großeltern kann sich so über die Biologie bis an die Enkel weitervererben, die Kohlenstaublunge unter Umständen ebenfalls. Die gute Nachricht: Damit steht uns mehr Einfluss auf unsere Gesundheit zu, als wir vielleicht glauben, denn die Programmierung ist zwar transgenerational, aber nicht irreversibel.
Peter Spork hat sich darin verdient gemacht, den relativ jungen Forschungszweig der Epigentik außerhalb der wissenschaftlichen Community bekannter zu machen – also auch bei denen, die es wissen sollten, wenn sie zum Beispiel über Präventionsprogramme und Gesundheitsaufklärung entscheiden.
Das Buch erklärt sehr gut, was genau sich dieser Epigenetik verbirgt. Ich möchte hier gar nicht erst den Versuch starten, das in all seiner Komplexität zusammenzufassen, aber ein Bild hat mir für mein Verständnis sehr geholfen: DNA und Gene als konstante Größen des menschlichen Erbguts sind eine Art potenzielles Programm für die Zellen – wie sie gelesen und dann aktiviert werden, darüber entscheiden bestimmte Markierungen. Anders als unsere Gene verändern sie sich dieser Marker über Generationen hinweg immer wieder sind durch äußere Faktoren beeinflussbar.
Sehr spannend sind auch die Konsequenzen, die sich aus diesen Erkenntnissen ableiten lassen, unter anderem nämlich, dass unsere Prägung schon vor der Zeugung beginnt und der Lebensstil des Vaters in den Monaten davor ebenso Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes hat wie der der Mutter.
Podcasts
Sehr gut einsteigen lässt sich in die Thematik der Epegenetik über das Gespräch der Ärztin und Podcasterin Natalie Grams mit Peter Spork in ihrem Podcast „Grams‘ Sprechstunde“. Ich kann gar nicht richtig einschätzen, wie viel man von den zentralen Gedanken des Buches aus dieser Folge mitnimmt, weil ich den Podcast gehört habe, nachdem ich „Gesundheit ist kein Zufall“ gelesen hatte. Ich war aber beeindruckt, wie konkret die Ideen im Dialog der beiden hier noch einmal vermittelt werden und wie einfach sich komplexe Dinge erklären lassen, wenn man sich ein wenig Zeit dafür nimmt, hier sogar nur eine gute halbe Stunde.
Der Podcast von Natalie Grams ist grundsätzlich empfehlenswert, eine interessante Mischung aus lebensnahen und aktuellen Themen [Ukrainehilfe, Meditieren ohne Esoterik, Besser diskutieren (über Gesundheitsthemen), Depressionsbegleitung] und dabei immer sehr wissenschaftsnah. Natalie Grams hat 2015 das homöopathiekritische Buch „Homöopathie neu gedacht – Was Patienten wirklich hilft“ herausgebracht und damit für Aufsehen gesorgt, unter anderem, weil sie zuvor selbst als Homöopathin gearbeitet hatte.
Wer Zusammenfassungen von Sachbüchern grundsätzlich eher hören als lesen mag: Ich empfehle den Podcast von Alexandra Tobor: „In trockenen Büchern“. Sie stellt pro Episode jeweils ein Sachbuch aus den Bereichen Psychologie, Philosophie, Soziologie vor, mit dem Anspruch, „Unlesbares lesbar zu machen“. Dabei entstehen durch die Lektüre von Alexandra Tobor eigene kleine Hör-Essays, ergänzt durch ihre Überlegungen und Zitate aus dem Buch.
„In trockenen Büchern arbeitet Sachbücher auf, die zu Unrecht als trockene, oft schwer zu bewältigende Lektüre gelten“.
Alexandra Tobor
Im Juli habe ich die jüngste, wenn auch nicht mehr ganz aktuelle Episode über das Buch von Martha Nussbaum gehört: „Zorn und Vergebung: Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit“. Das Buch ist 2017 erschienen und liefert eine sehr tiefe, umfassende Analyse dieser verbreiteten Emotion. Martha Nussbaum hält sie für wenig geeignet, um wirklich mit Kränkungen umzugehen, und empfiehlt stattdessen, sich in der Gelassenheit der Stoiker zu üben. Ich finde das einen interessanten Gegenentwurf, vielleicht die bessere Variante, als Frauen nahezulegen, sie sollten die als „männlich gegenderte Emotion“ stärker ausleben.
Wie lebendig ein Gespräch werden kann, wenn wir uns mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen, zeigen Janina Kugel und Maja Göpel in der Episode 74 des „Gespräche-von-morgen“-Podcasts mit Jonathan Siercks. Die beiden nehmen uns mit auf eine Reise durch ihr jeweils schon jetzt sehr erfülltes Leben. Zwei so klugen, reflektierten Frauen einmal in einem so ruhigen, grundsätzlichen Gespräch zuzuhören, habe ich als inspirierend und wohltuend empfunden.
Im hier schon mal in anderen Monaten erwähnten Bücherpodcast „Das Lesen der Anderen“ von Christian Möller gab’s eine tolle Bonusfolge, die allerdings nur Unterstützer*innen des Podcasts zugänglich ist, vielleicht ein guter Anlass, eine*r zu werden. Der Journalist Joachim Henschel spricht darin über sein Buch „Dann sind wir Helden – wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde“. Das war schon im Podcast so spannend erzählt, dass ich mir das Buch gleich gekauft habe – und gerne noch darüber berichten werde. Unter anderem zeichnet er nach, wie der Song der DDR-Band „Über sieben Brücken musst du geh’n“ erst durch Peter Maffay zu einem Riesenerfolg wurde, so das heute nur wenige wissen, dass seine Ursprünge im Osten liegen, bei der Band Karat. Ein kürzeres Interview zum Buch ist auch in der WDR-Sendung „Gutenbergs Welt“ zu hören – da hat Christian ebenfalls mit Joachim Henschel gesprochen.
Musik
Das neue Album von Jochen Distelmeyer ist erschienen – ich habe noch gar nicht intensiv genug hineingehört, um mehr darüber zu schreiben, aber es ist gut.
Mein Konzert des Monats knüpfte sehr gut an das Buch von Joachim Henschel an, wie gut, ist mir erst im Nachhinein klar geworden. Es gab einen Auftritt der aus dem Film „Gundermann“ entstandenen Band „Alexander Scheer | Andreas Dresen & Gundermann“ in Hamburg – und es war ein großartiger Abend. Ich habe das jetzt zum dritten Mal gehört, das Programm ist jedes Mal nahezu (?) identisch, die Kulissen könnten unterschiedlicher nicht sein: 2020 im Schauspielhaus in Hamburg, 2021 Open Air auf Usedom und nun erneut Open Air, vor der riesigen Trude, dem Schneiderad des Elbtunnelbohrers, am Museum der Arbeit in Hamburg.


Gundermann ist ein Liedermacher aus der DDR, heute würde man ihn Singer-Songwriter nennen. Seine Geschichte erzählt Regisseur Andreas Dresen in dem wunderbaren Film mit Alexander Scheer in der Hauptrolle. Der Schauspieler interpretiert die Songs auch als Sänger neu. Gundermanns Musik haben die beiden mit dem Film und ihren Live-Auftritten auch über den Osten hinaus bekannt gemacht. Ich liebe den Soundtrack und kannte Gundermann vor dem Film gar nicht.
Joachim Henschel berichtet übrigens im Gespräch über sein Buch, dass die Ursprünge der heute im Westen erfolgreichen Singer-Songwriter in der Tradition der lyrischen Songs im Osten liegen, das fand ich sehr bemerkenswert.
Als letzten Song in ihrem Programm spielen Scheer und Dresen „Dann sind wir Helden“ von David Bowie. Könnte man nun für eine Referenz an das Buch von Joachim Henschel halten, hat aber damit zu tun, dass Alexander Scheer nicht nur so wahnsinnig glaubhaft Gundermann war, sondern auch als David Bowie vor gut drei Jahren im Hamburger Schauspielhaus in jeder Hinsicht überzeugt hat.
Lustige Koinzidenz also, aber es gibt auch weitere Bezüge zum Buch, ich hoffe, man kann mir folgen, denn nun kommt ein weiterer Singer-Songwriter ins Spiel: Bei den Gundermann-Konzerten von Scheer/Dresen steht jedes Mal auch ein Song des Hamburger Musikers Gisbert zu Knyphausen auf dem Programm – Dresen ist großer Fan. Knyphausens Band für Live-Auftritte hat auch die Adaption der Musik von Gundermann durch Alexander Scheer für den Film „unterstützt, inspiriert und getragen“, wie es in den Credits heißt. Die eigentliche Band von Gundermann, „die Seilschaft“, die auch nach seinem Tod weiter im Osten auftrat, war nicht gefragt worden. Gundermanns Ehefrau Conny hatte das zunächst offenbar bedauert, wie sie in einem Gespräch (ab 14:38) berichtet, hat dann aber wohl „verstanden, dass es die richtige Entscheidung“ gewesen sei. Ich mag die aktuelle Adaption der Musik für den Film sehr gern, ich muss gestehen: Mir gefällt sie besser als die ursprünglichen Vertonungen durch Gundermann und die Seilschaft. Denn die erscheinen dann heute doch ein wenig aus der Zeit gefallen, so zeitgemäß seine Texte geblieben sind. Und der Verdienst von Andreas Dresen für das Werk Gundermanns ist so groß, dass man seine Entscheidung nur gutheißen kann.
Beim Konzert in Hamburg spielten Alexander Scheer und Andreas Dresen den Song „Das Leichteste der Welt“ von Knyphausen, entstanden vor etwa zehn Jahren, auf dem Duo-Album mit dem anschließend viel zu früh verstorbenen Nils Koppruch. Genau dieses Lied war schon mein Song des Monats Juli, als ich noch gar nicht wusste, dass ich zu dem Konzert gehen würde. Ich wusste anfangs nicht einmal, dass es ein „Kid-Kopphausen“ (so nannte sich das Duo)-Song ist. Denn interessanterweise ist das Stück zunächst über einen ganz anderen Weg zu mir gelangt: Stephan Eicher (siehe Monatsnotiz März) hat es in diesem Sommer in einer französischen Version herausgebracht. Bei der Recherche habe ich dann sogar noch eine Interpretation der als DDR-Band gegründeten „Keimzeit“ gefunden, die bis heute Musik macht und auftritt. Da, so finde ich, schließt sich dann der Kreis.
Das Lied ist wunderbar, am besten, wie ich finde, in der ursprünglichen Version. Es ist zehn Jahre alt und passt doch gut in die aktuelle Zeit, vermittelt so etwas wie Zuversicht. Von der Interpretation durch Andreas Dresen am Abend in Hamburg habe ich nur einen kleinen ruckligen Konzert-Ausschnitt mitgebracht, die anderen Videos schließen meine kleine musikalische Spurensuche ab. Sie zeigen, wie einzelne Lieder in unterschiedlichen Varianten von Ort zu Ort und durch Zeiten wandern können und dabei offenbar ihre Kraft niemals verlieren und durch verschiedene Interpretationen immer reicher werden.
Knyphausen / Koppruch live 2012
Knyphausen / Koppruch Video
Keimzeit
Stephan Eicher