Christian Füller hat in der taz einen Kommentar zum Henri-Nannen-Preis geschrieben, mit dem Heike Faller in diesem Jahr für ihre Reportage „Der Getriebene“ ausgezeichnet wurde. Beides sind für mich sehr lesenswerte Texte, die mich mehr als ein Wochenende beschäftigt haben. Heike Faller hat einen Pädophilen begleitet, der eine Therapie macht. Christian Füller sieht die Qualität der Reportage, empfindet aber die Auszeichnung und die Laudatio der Jury des Henri-Nannen-Preises als „Schlag ins Gesicht“ der Opfer.
Ich habe mit dem Text/Kommentar von Füller in der taz lange gekämpft, bzw. mit meiner Ambivalenz damit. Und ich habe mich gewundert, wie schnell die vielen Kommentare darunter sich eine Meinung dazu machen können. Wer jetzt weiterliest, sollte beide Texte gelesen haben.
Christian Füller kritisiert u. a., dass das im Text beschriebene Therapieprogramm jährlich mit mehr als 300.000 Euro aus dem Justizministerium unterstützt wird, wärhrend die Opfer bislang keinen einzigen Cent erhalten haben. Ich finde es problematisch, die Summe, die in Präventionsprogramme für Täter investiert wird, den bislang nicht gezahlten Entschädigungen für Opfer gegenüberzustellen. Das ist ja kein Geld, das alleine den Tätern zukommt, sondern dem Opferschutz dient. Für pädophile Männer ist die Therapie nicht nur eine Hilfe. Ich sehe auch nicht, dass die Frage nach dem “Warum” in Richtung der Täter keine ist, der Journalisten nachgehen sollten. Es wird auch den Opfern helfen, und sei es potenziellen, wenn es ein besseres Wissen um – nicht unbedingt Verständnis für – die Täter gibt.
Aber: Man stelle sich vor, die Opfer in Deutschland hätten eine wirkliche Lobby. Opferverbände wie Netzwerk B müssten nicht um ihre Existenz kämpfen, Vertreter der Opfer hätten einen Platz an den Runden Tischen. Man stelle sich vor, dass sich die FAZ NICHT darüber aufregen darf, dass Opfer sexuellen Missbrauchs bei Beckmann auftreten – mit dem Hinweis, so etwas sei kein Thema für eine Talkshow. Man stelle sich also vor, die Opfer hätten eine Stimme, ihr zerstörtes Leben, ihr Kampf, mit dem Trauma fertig zu werden, sei Thema in den Medien. Dann wäre dieser Text so nicht entstanden – denke ich. Das müssten sich die vor Augen halten, die in den Kommentaren unter dem Artikel in der taz eine Hetz auf Täter darin sehen. Dabei ist er doch in erster Linie ein großes Plädoyer für Opfer, die um ihre Existenz kämpfen und dabei nicht einmal wahrgenommen werden. .
Man kann die Reportage von Heike Faller in der Tat nicht rein textimmanent sehen. Und ein Preis für einen journalistischen Text muss diesen in seinem gesellschaftlichen Kontext stellen. Deshalb ist die Kritik an der Preisvergabe und der Laudatio berechtigt. Zudem der Text von Faller keineswegs “kühl” ist und keine Position bezieht. Ein Text wirkt nicht alleine durch die Sprache, sondern auch durch die Auswahl der Szenen, Eindrücke, Beschreibungen, aus der sich ein Porträt zusammensetzt. Sie macht aus diesem Täter einen Helden und das darf und muss man kritisch sehen.
Dennoch bleibe ich ambivalent. Kann man die Empathie für Opfer und Täter so gegeneinander ausspielen? Einige sind beides, waren Opfer und werden Täter. Es muss beides geben – Texte, die den Opfern eine Stimme geben, und Texte, die darstellen, was Täter zu Tätern macht. Es ist aus meiner Sicht nicht richtig, dem einen Text vorzuwerfen, dass es den anderen nicht gibt. Der Vorwurf an die einseitige Auswahl der Medien ist da aus meiner Sicht treffender.