Ich sitze im Zug nach Tutzing. Zu einer Tagung, die ich ganz privat besuche, bzw. mehr privat als beruflich, so ganz strikt trenne ich das ja nicht. Bei der Tagung geht es um das Buchprojekt des SZ-Journalisten Dirk von Gehlen: „Eine neue Version ist verfügbar“, das über Crowdfunding von guten 300 Unterstützern finanziert wird. Ich bin eine davon.
Crowdfunding-Buchprojekt
Gegen Ende des letzten Jahres wurde ich irgendwann auf das Projekt aufmerksam. Wahrscheinlich über Twitter. Mich hat zu Anfang – so meine ich – weniger das Thema gereizt als die Erfahrung, ein Crowdfunding-Projekt zu unterstützen, auf das ich neugierig war. Ich investierte also eine überschaubare Summe. Ich wusste noch gar nicht so recht, worauf ich mich da einlasse und was es mir wirklich bringen würde.
Wiederbegegnung mit bekannten Themen in neuem Kontext
Heute, gut ein halbes Jahr später, bin ich sehr froh, dass ich noch kurz vor Toresschluss reingerutscht bin. Das Thema liegt mir viel näher, als ich anfangs vermutet hatte. Ich hatte plötzlich wieder mit Gedanken zu tun, die mich vor ca. 15 Jahren während meines Studiums und der Zeit meiner Magisterarbeit in Germanistik beschäftigt haben. Und ich bin erstaunt, dass ich weitaus mehr Zeit und Gedanken investiert habe, als ich mir zu Anfang je hätte vorstellen können. Als Dirk von Gehlen anfangs von dieser Tagung sprach, war Tutzing für mich weit weg, die Vorstellung, ein Wochenende dort hinzureisen, eher abwegig. Je länger das Projekt dauerte, je mehr ich eintauchte, desto konsequenter wurde es für mich, genau das zu tun.
In dem Buch geht es um die Veränderung der Kultur im Zeitalter der Digitalisierung. Dirk von Gehlen arbeitet mit zwei grundlegende Thesen:
- Durch die Ablösung der Daten vom festen Träger (Buch, CD etc.) werden Kulturprojekte „flüssig“ – der fertige Zustand eines Werkes verflüchtigt sich. Kunst und Kultur werden zu Software, die in verschiedenen Versionen entstehen und vor allem auch rezipiert werden.
- An die Stelle des Endproduktes tritt das Prozesshafte seiner Entstehung. Man erfährt mehr über ein Kunst- oder Kulturprodukt, wenn man die verschiedenen Versionen und den Entstehungsprozess nachvollzieht. Die Digitalisierung ermöglicht dies.
Unkopierbare Momente
Mit vielen anschaulichen Beispielen verdeutlicht Dirk von Gehlen, was damit gemeint ist: Der unkopierbare Moment des Erlebens eines Fußballspiels, in dem das finale Ergebnis nur noch ein Teil und niemals wirklich das ist, was große Begegnungen ausmacht. Der Künstler David Hockney, der er es sich erlaubt, auf seinem I-Phone angefertigte Zeichnungen quasi als Vorstudien an ausgewählte Freunde oder Sammler zu verschicken. Oder noch viel radikaler: Das Interview mit der Autorin Silvia Hartmann, die mit Google-docs als „naked writer“ live einen fiktiven Roman geschrieben hat, während parallel Mitlesende das Geschriebene kommentierten.
Dirk von Gehlen hat das Schreiben über diese Phänomene zum Experiment gemacht, indem er selbst seine Unterstützer hat teilhaben lassen an der Entstehung seines Buches. Nach und nach erhielten wir die einzelnen Kapitel, Informationen über den weiteren Fortgang des Projekts sowie Gedanken und Quellen zum Weiterlesen. Dieses alles konnte, wer wollte, kommentieren und ergänzen, mit weiteren Anregungen versehen. Sehr schade finde ich, dass diese Kommentare dann mehrheitlich doch in einer Blackbox verschwanden. Erst beim abschließenden Live-Schreib-Experiment zu Abschluss konnten Teilnehmer sehen, welche Anmerkungen andere dem Autor ins Dokument geschrieben hatten. Der Austausch mit anderen Rezipienten hat mir gefehlt – auch das war ein Grund, zur Tagung zu reisen.
Aktive Rezipienten
Inhaltlich hat mich an dem Buch vor allem fasziniert, dass die Rolle des Rezipienten neu beschrieben wird. Dazu ein Zitat aus dem Buch von Nick Bilton, Technik-Autor der New York Times: „I Live in the Future and here is How it Works“:
„Digitalisierung verschiebt die Kräfteverhältnisse zwischen Autor und Publikum, zwischen Storyteller und Konsument. Die Folgen sind für alle klassischen Autoritäten erkennbar, diese müssen sich neu begründen. Sie müssen in dem neuen Umfeld, das den vormals passiven Konsumenten zu einem aktiveren Teilnehmer macht, neue Begründungszusammenhänge für sich finden.“
Als Gedanke ist das ja gar nicht neu, von der Rolle des aktiven Rezipienten hat schon Brecht in seiner Radiotheorie geträumt. Interessant ist für mich, nun zu erleben, dass die Digitalisierung dafür vielleicht bessere Voraussetzungen schafft als es sie je zuvor gegeben hat. Dabei ist klar, dass der produktive Rezipient auch bei Experimenten wie diesem hier eine Option bleibt. Viele haben sicher nur mitgelesen, nur ein Bruchteil wird an der Tagung teilnehmen.
Für mich führt die Rolle der aktiven Rezipientin auf das zurück, weshalb ich dieses Blog begonnen habe. Ich durchdringe Texte und Gedanken anderer Menschen intensiver und nachhaltiger, wenn ich mich aktiv damit auseinandersetze, wenn ich sie kommentiere, mich darüber austausche, etwas dazu schreibe. Das ist nicht verwunderlich, in der Flut dessen, was ich so konsumiere, aber schon ein Sonderfall.
Weitere Themen, auf die ich – auch in Hinblick auf die Tagung – sehr gespannt bin: Welche neue Rolle hat der Autor? Warum ist der klassische Werkgedanke überholt, wird der „Werkstolz“ vielleicht abgelöst durch einen „Netzwerkstolz“?