Wieder einmal der Osten: In Chemnitz und Köthen hat jüngst der Hass auf vermeintlich fremd wirkende Menschen in den gewalttätigen Ausschreitungen von Rechtsextremen seine hässlichsten Auswüchse gezeigt. Es gibt Menschen, die jetzt am liebsten einen großen Bogen um Ostdeutschland machen würden. Einzelne wünschen sich die Mauer zurück. Und auf einem Elternabend wird diskutiert, ob von Klassenfahrten in den Osten nicht grundsätzlich Abstand zu nehmen sei.

Ist Ostdeutschland eine No-go-Area?

Ist es tatsächlich schon so weit, dass vor Schulausflügen nach Ostdeutschland gewarnt werden muss? Sind Mecklenburg Vorpommern oder Sachsen spätestens ab jetzt als Urlaubsort keine Option mehr? Bereits nach den Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte gab es Reisewarnungen aus Kanada und China an die jeweils eigenen Bürger des Landes. Die Sorge der „Betroffenen“ darf man nicht bagatellisieren. Aber lässt man sie nicht mit ihrer Sorge alleine, wenn man den Osten einfach zur No-go-Area deklariert? Es ist ein falsches Signal, aus verschiedenen Gründen.

Den Schülerinnen und Schülern vermittelten wir damit, in Ostdeutschland nicht mehr  für ihre Sicherheit garantieren zu können. Aber kann man in Mecklenburg-Vorpommern wirklich nicht mehr angstfrei über die Straßen gehen oder haben wir nur den Eindruck, weil wir seit Wochen vorrangig die Bilder von pöbelnden, demonstrierenden Menschen im Osten sehen? Und wenn es so wäre: Wollten wir das wirklich akzeptieren? Ist es nicht vielmehr die Aufgabe der Eltern, Pädagog*innen und Begleitpersonen, sicherzustellen, dass auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sich sicher und unversehrt in Ostdeutschland aufhalten können?

Zivilcourage ist überall gefragt

In dieser Aufgabe sind wir auch andernorts gefragt, denn: Fremdenhass gibt es leider nicht nur im Osten, auch wenn er sich dort gerade sehr stark und besonders unangenehm offenbart. Dabei erhalten die Rechtsextremen dort übrigens Verstärkung aus den westlichen Bundesländern, in Chemnitz und auch bei anderen Kundgebungen und Treffen. Wachsamkeit ist also in ganz Deutschland empfehlenswert: Auch in Gelsenkirchen, Berlin oder Hamburg gibt es immer wieder Situationen, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene beleidigt oder gar körperlich angegriffen werden, weil man sie als Fremde ausgrenzen möchte. Darauf müssen Menschen, die diesen Ausgrenzungen ausgesetzt werden, vorbereitet sein. Vor allem aber müssen sich ihre Mitmenschen klar machen, dass sie in ihrer ganzen Aufmerksamkeit und Zivilcourage gefragt sind. Erwachsene sollten wissen, junge Menschen lernen, dass sie eingreifen und helfen müssen, wenn es zu verbalen oder körperlichen Übergriffen kommt – sei es in Augsburg, Frankfurt oder in Hannover, sei es in Görlitz, Meißen oder an der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern.

In Sippenhaft

Die, die jetzt Ostdeutschland als „No-go-Area“ markieren, wünschen sich, ihr Boykott möge als Strafe wirken, im Sinne von „dann sehen sie mal, was sie davon haben“. Das soll auch die Politiker*innen treffen, insbesondere natürlich die der AfD. Unter dem Imageschaden leiden aber eher nicht die, die für die aktuellen Ereignisse verantwortlich sind – im Gegenteil. Die grölenden Neonazis haben sich mit ihren fremdenfeindlichen Parolen, mit Hitlergruß und rechtsradikalen Positionen in ihrer Schmuddelecke schon lange und gut eingerichtet – es kratzt sie wenig, ob Menschen aus dem Westen ihre Region mit einem Reiseboykott belegen. Viel eher fühlen sie sich bestätigt, wenn es ihnen gelingt, Menschen einzuschüchtern. Politiker*innen erscheinen eher hilflos als einsichtig, was ihr Anteil an der Entwicklung gewesen sein könnte. Wichtige Entscheidungsträger sind schon gar nicht mehr im Amt.

Wer aber unter dieser Art von „Reisewarnung“ leiden würde, sind die, die in Sippenhaft genommen werden, einfach weil sie im Osten leben. Es sind auch die Menschen, die im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Neonazis schon Jahre lang alleine gelassen worden sind – von Bürger*innen und Politiker*innen im Westen genau wie von vielen im Osten. In der augenblicklichen Wahrnehmung mag es erscheinen, als seien es nicht zu viele. Vielleicht sind sie aber einfach nur müde und frustriert, weil sie erkennen müssen, dass trotz ihres Engagements nicht verhindert werden konnte, was jetzt auf den Straßen zu sehen ist?

Rechtsradikalismus – ein gesamtdeutsches Problem

Nicht zuletzt geht es auch um Verantwortung. Es ist eine Form der Abspaltung, die Ursachen von Rechtsradikalismus und Neonazismus auf eine entsprechende Mentalität und die Menschen im Osten zu reduzieren, auch wenn es dort unzweifelhaft ein besonderes Problem damit gibt. Arroganz aus dem Westen aber ist hier fehl am Platz. „Warum der Osten“ ist eine komplexe, vielschichtige Frage, die eine gemeinsame Verantwortung niemals ausgrenzen kann. Es war zum Beispiel der westdeutsche Politiker Kurt Biedenkopf, der sich jahrelang geweigert hat, die Anzeichen des Erstarkens des Neonazismus in Sachsen wahrzunehmen, geschweige denn, dagegen anzugehen. Und es war die bundesdeutsche Regierung, die im eigenen Interesse viel in die Wirtschaftsförderung in den „neuen Bundesländern“, aber viel zu wenig in die politische Präventionsarbeit investiert hat.

Was im Osten gerade zu sehen ist, ist ein gesamtdeutsches Problem. Wir lösen es nicht, wenn wir die Regionen meiden. Wir müssen dort sein, Einschüchterungsversuche ignorieren, Haltung zeigen, nach den wirklichen Ursachen der aktuellen Entwicklungen forschen. Wir müssen auf Polizeischutz pochen für die, die bedroht und angegriffen werden. Und wir müssen die unterstützen, die im Osten schon jetzt für die Werte einer freiheitlichen Demokratie unterstützen.

Weiteres zum Thema:

Aus meiner Sicht bezeichnend für die Haltung einiger Politiker im Osten ist ein Interview, in dem Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) von der Mitteldeutschen Zeitung vor den erwarteten Demonstrationen in Köthen am heutigen Tage befragt wird, ob er die Sicherheit von „Ausländern“ am heutigen Tage garantieren könne:

„Ich habe mich am Dienstag vor dem Gottesdienst in Köthen in ein Café gesetzt. Das war friedlich, die Menschen waren freundlich“.

Gleichzeitig empfiehlt er den Bürgern, „am Sonntag zuhause zu bleiben und die Rolläden dicht zu machen, um ein Zeichen zu setzen, dass man die nicht sehen will“.

Es sind Zeichen dieser der Art, wie sie von Politikerinnen eben viel zu lange gesetzt worden sind.


Aufmerksamkeit ist dem Hashtag #DerAndereOsten zu wünschen, den der Blogger Stefan Krabbes ausgerufen hat, um den Bildern von rechtsextremen Demonstrierenden etwas entgegenzusetzen: „Beteiligt euch, schreibt in die Kommentare, nutzt den Hashtag und formuliert, was ihr euch für den Osten oder auch den Westen wünscht, was euch freut, was wir besser machen müssen, denn nur wenn wir im Dialog bleiben, können wir Zusammenhalt organisieren und unsere Demokratie stärken.“

Zu möglichen Antworten auf die Frage: „Warum der Osten“ führt das aufschlussreiche Gespräch zwischen der Autorin und Journalistin Jana Hensel und dem Publizisten Wolfgang Engeler bei Deutschlandfunk Kultur: Der Kollaps der ostdeutschen Gesellschaft war umfassend.

Lesenswert auch das Buch, das Jana Hensel in dem Gespräch empfiehlt: „Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen“, herausgegeben von Heike Kleffner und Matthias Meisner.