Philippe Wampflers Buch „Generation ‚Social Media’ – Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert“, habe ich zunächst aus privatem Interesse gelesen. Der Autor arbeitet als Lehrer in der Schweiz. Als Kulturwissenschaftler publiziert und bloggt er zu Themen rund um Social Media. Was mich am Buch gereizt hat, ist der Einblick in den Alltag von Jugendlichen. Immer wieder beobachte ich in Diskussionen, Medienberichten und auch bei mir selbst, wie schnell wir Erwachsenen dabei sind, unsere eigenen Urteile, Erfahrungen und auch Ängste eins zu eins auf die Mediennutzung junger Menschen zu übertragen. Und damit schnell auch mal schief liegen. Ein kleines Beispiel dafür: Eine Bekannte berichtete mir, dass sie als Mittvierzigerin beruflich viel mit jungen Menschen zu tun hat. Sie interessiert sich für ihre Themen und führt gute Gespräche mit ihnen. Als sie einmal von einem Studenten eine Mail bekam, die nur in Versatzstücken und ohne einen vollständigen Satz formuliert war, gab sie ihm den Tipp, dass solche Nachrichten bei ihr als Empfängerin das Gefühl mangelnder Wertschätzung auslösen könnten. Der Angesprochene antwortete ihr, dass er genau das Gegenteil beabsichtigt habe: Eine Nachricht mit komplett ausformulierten Sätzen hätte er als zu förmlich betrachtet und damit als unpassend angesichts ihres freundschaftlichen und offenen Kontakts.
Das Leben der Jugendlichen: digital und anders
Was sich hier am Beispiel der E-Mail-Kommunikation zeigt, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch von Philippe Wampfler: Wir kommen nicht weiter, wenn wir mit unseren (Vor-)Urteilen, Wertmaßstäben und unserem erwachsenen Erfahrungshorizont verstehen wollen und bewerten, wie Jugendliche Social Media nutzen. Unter anderem, weil es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen denen, die analog sozialisiert wurden, und denen, die „nie gelernt haben, ohne das Internet zu leben“ (Zitat von Rieke, 2014, S. 22). Jugendliche heute unterscheiden nicht mehr zwischen dem „echten“ und dem „virtuellen“ Leben. Aber auch, weil sie soziale Medien anders nutzen, als wir das gewohnt sind. Und manchmal auch anders, als es sich die Macher von Facebook, WhatsApp & Co. vielleicht gedacht haben bzw. wünschen. So berichten die Medienwissenschaftlerinnen Dana Boyd und Alice Marwick (2011), die Wampfler zitiert, von einer Jugendlichen, die ihr Facebook-Konto jedes Mal deaktivierte, nachdem sie es benutzt hatte, was sie vorrangig nachts tat, wenn sie davon ausgehen konnte, dass Erwachsene weniger oft auf ihr Profil stoßen würden. Ihre gesamte Facebook-Kommunikation war damit nur in den Zeiten sichtbar, in denen sie auf Facebook aktiv war.
Folgen der Digitalisierung nicht komplett absehbar
Auch wenn Wampfler Jugendlichen durchaus Techniken zutraut, die wir noch gar nicht entdeckt haben, um etwa Probleme des Datenschutzes zu umgehen, so zeichnet er keineswegs ein beschönigendes Bild der Auswirkungen sozialer Medien auf das Leben von Jugendlichen. Das Buch ist in einem angenehm „nüchternen“ Stil verfasst und von dem, was mir bekannt ist, eine der eher selteneren Veröffentlichungen, in denen der Autor es aushält zu sagen: Wir wissen noch nicht, welche Folgen die Digitalisierung haben werden. Wir können Vermutungen anstellen, belegen lässt sich vieles aber nicht. Die Veränderungen passieren schneller, als Studien hinterher kommen können. Wer heute ein Buch schreibt, kann morgen schon eine Ergänzung, Korrektur oder auch Erweiterung hinterherschieben. Was Philippe Wampfler in seinem Blog „Schule und Social Media“ regelmäßig liefert, weshalb es sich lohnt, ihm zu folgen. Es prägt die Beschreibungen von Wampfler, dass er als Lehrer sehr nah dran ist an den Jugendlichen, über die er berichtet. Was er zu den Bereichen Gesundheit, Beziehungen, Geschlechterrollen, Identitätssuche und Lernen schreibt, ist aber vor allem auch deshalb sehr bereichernd, weil er Studien und Untersuchungen einbezieht, so weit sie denn vorliegen.
Schattenseiten von Social Media
Philippe Wampfler entdeckt in Social Media klare Potenziale für die Entwicklung von Jugendlichen, und hier finde ich das Kapitel, in dem es um den Bereich Lernen geht, interessant. Er verweist aber auch auf die Gefahren: So sind zum Beispiel die Dimensionen des Cybermobbing ganz andere, wenn es sich in sozialen Netzwerken abspielt, wo die Verbreitung viel schneller geschieht und weitere Kreise entstehen. Mobbing hat es auch ohne soziale Medien schon gegeben, und das Internet ist somit nicht „schuld“ daran. Trotzdem muss man sich und den Jugendlichen klar machen, dass die Auswirkungen heute andere sein können. Ein weiteres Beispiel für Schattenseiten, die Wampfler benennt, ist die überhöhte „Angst, etwas zu verpassen“ (Fear of Missing Out = FOMO). Diese Angst entstehe aus einem unbefriedigendem Sozialleben und werde durch die Nutzung von Social Media nur noch verstärkt. „Fomo“, zitiert Wampfler die Expertin für digitale Kommunikation Priya Parker, „sei ein Gefühl, unter dem alle leiden, obwohl niemand es zugibt. Deshalb ist es wichtig, solche negativen Auswirkungen digitaler Kommunikation zu benennen und darüber nachzudenken, wie sie abgeschwächt werden könnten.“ (S. 113)
Auch für Erwachsene: Reflexion der eigenen Mediennutzung
Mehrere Stellen im Buch haben mich motiviert, meinen eigenen Umgang mit sozialen Netzwerken und digitalen Medien kritisch zu reflektieren, umso mehr, weil ich Kinder habe, die sich (auch) an mir orientieren werden. Es sind ja zum Teil sehr grundsätzliche Veränderungen, die mit der steigenden Nutzung digitaler Medien einhergehen, und die betreffen uns alle, ganz unabhängig vom Alter. Die Smartphone-Etikette zum Beispiel, die Philippe Wampfler im Anhang des Buches neben anderen Materialien zur Verfügung stellt, kann man auch einigen Erwachsenen in die Hand drücken, ich habe dazu schon an anderer Stelle geschrieben. Es ist dieses Buch also allen zu empfehlen, die einen Weg suchen, Social Media gewinnbringend zu nutzen.
Wie können Erwachsene Jugendliche begleiten?
Was für mich am Ende offen bleibt, und ich bin gar nicht sicher, ob es darauf eine Antwort gibt: Wie gehen wir mit dem Widerspruch um, dass wir als Eltern Jugendliche bei einer „kompetenten Nutzung und wirkungsvollen Prävention“ (Kladdentext) begleiten sollen, gleichzeitig aber ab einem bestimmten Alter soziale Medien zu einem Rückzugsort vor den Eltern werden? Wie kann ich wirklich nachvollziehen, wie Jugendliche Medien nutzen, wenn doch der Reiz darin besteht, dass ich keinen Zugang dazu habe? Für mich war eine erste Lösung, dieses Buch zu lesen, und sicher besteht die Herausforderung einfach darin, auf dem Laufenden zu bleiben und möglichst unverstellt hinzusehen. Aber einen Schritt weiter gedacht: Wenn doch negative Auswirkungen in einigen Bereichen offensichtlich sind: Wer ist dafür verantwortlich, Kinder und Jugendliche davor zu schützen? Schaut man sich um, so ist es aktuell fast eher ein Glücksfall, wenn Kinder in ihrer Mediensozialisation kompetent begleitet werden. In der Schule sind viele Lehrer mit dem Thema überlastet, in den Lehrplänen kommt es noch nicht hinreichend vor. Es hängt noch zu oft vom Engagement und dem Know-how einzelner Lehrerinnen und Lehrer ab, welche Rolle Medienerziehung in der Schule spielt. Auch viele Eltern sind überfordert: Ihnen fehlen die Zeit, das Wissen und auch die Bereitschaft, sich mit den Neuen Medien so intensiv auseinanderzusetzen, wie es notwendig wäre, um ihren Kindern wirklich ein Vorbild und eine Ansprechpartnerin zu sein. Das fängt mit der Mediennutzung an und hört mit dem Thema Sicherheit sicher noch nicht auf. Es bleibt die ungute Ahnung, dass hier die Kinder die schlechtesten Chancen haben, die per se mit schlechterer Ausstattung ins Leben gehen.
Interviews zum Buch
In einem Interview, in denen einzelne Themen dieses Buches angerissen werden, geht Philippe Wampfler darauf ein. Gefragt, ob junge Männer die Verlierer der sozialen Medien sein, antwortet er, dass dies vor allem auf bildungsferne junge Männer zutreffe. Das Interview hatte mich dazu gebracht, das Buch zu lesen, auch oder gerade weil es einzelne Aussagen enthält, die meinen Widerspruch geweckt haben. Es kann sich also lohnen, damit einzusteigen. Aus der privaten Lektüre hat sich dann noch ein beruflicher Bezug ergeben: Philippe Wampfler hat an einem virtuellen Elternabend teilgenommen, den wir in der Agentur Mann beißt Hund für unseren Kunden scoyo als Google-Hangout organisiert haben. Für das Online-Magazin „Eltern!“ von scoyo hat Philippe Wampfler außerdem ein weiteres Interview gegeben.
Philippe Wampfler: Generation »Social Media«. Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert, 1. Auflage 2014, 160 Seiten, Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-647-70168-4, auch als E-Book erhältlich.
Auf der Seite des Verlags kann man eine Leseprobe und das Inhaltsverzeichnis einsehen.