Vor 30 Jahren bin ich der Liebe wegen nach Hamburg gezogen: Ich wollte nah am Meer sein. Ich war zwar auch zum Studieren an die Elbe gekommen. Aber die Stadt erschien mir vor allem deshalb als Verheißung, weil ich von hier aus jederzeit schnell an die Küste fahren konnte.

Schon als Kind habe ich mich am Meer geborgen gefühlt. In den Wellen der Nordsee lernte ich im Urlaub mit vier Jahren schwimmen – und wollte danach am liebsten nie mehr damit aufhören. Vorher hatte ich noch große Angst vor dem Wasser, der Schwimmkurs in der Schwimmhalle war eine Katastrophe, der Schwimmlehrer hatte mich schnell aufgegeben.

Am Meer begegnete ich meinen Sehnsüchten. Am Meer schmiedete ich Pläne für die Zukunft. Am Meer fand ich Hoffnung, Zuversicht und Sinn. Mit dem Blick auf die kraftvollen Wellen konnte ich Energie tanken. Die Schönheit und Unendlichkeit machten mich glücklich.

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Die Liebe hat gehalten, bis heute. Ich fahre noch häufiger als in den ersten Hamburger Jahren an die Küste. Nicht mehr so sehnsüchtig, dafür dankbar. Das Meer beruhigt. Es lässt vieles nebensächlich erscheinen, was in der Stadt noch wichtig erschien.

Die Liebe hat gehalten, und doch hat sich viel verändert.

Seit einigen Jahren gibt es neue Bilder vor meinem inneren Auge, wenn ich am Meer bin oder ans Meer denke. Ich habe sie das erste Mal in der Tagesschau gesehen, die von der Flucht von Menschen aus Syrien und Afrika über das Mittelmeer berichtete, danach in den anderen Medien. Sie machen traurig, ratlos, hilflos: Bilder von verzweifelten Menschen, die in überfüllten Schlauchbooten auf Rettung hoffen. Das Foto des dreijährigen Aylan Kurdi, dessen toter Körper an die türkische Küste gespült wurde, nachdem er auf der Flucht von Syrien ums Leben gekommen war. Die Aufnahmen, die zeigen, wie Männer der Crew eines Rettungsschiffes Leichen in schwarze Plastiktüten verpacken. Bei Ankunft an der Küste schleppen sie sie  an den Strand.

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Foto: © MOAS

Neben den Bildern sind auch die Schilderungen von Regina und Christopher Catrambone in mir präsent. Das amerikanisch-italienische Ehepaar hat vor vier Jahren die internationale Seenotrettung MOAS (Migrant Offshore Aid Station) gegründet. Es war ein einschneidendes Erlebnis auf einem Segeltörn im Urlaub vor Malta, das ihr Leben komplett verändert hat:

„As they headed south, Regina spotted a beige winter jacket bobbing in the water. Cauchi, who had once run Malta’s maritime search and rescue operations, told her it may have come from a sunken migrant boat.“ (…) Migrant deaths became an obsessive topic of conversation on the yacht, and Catrambone, typically, found himself looking for a solution. “It makes you think like: ‘Wow! Look at me out here cruising on my boat, at the same time people are out there dying,” he said. “So our heaven is their hell, right? Our paradise is their hell.” (The Guardian, 8. Juli 2015)

„Our paradise is their hell.“ Ob Regina und Christopher heute noch Urlaub auf dem Meer machen können, weiß ich nicht. Sie sind weiterhin bei den Rettungseinsätzen in Südostasien mit auf dem Boot.

Die Situation im Mittelmeer hat sich verschärft. Mittlerweile müssen sich Menschen vor Gericht dafür verantworten, dass sie sich freiwillig engagieren und andere vor dem Ertrinken retten. Ihr Einsatz ist eine Reaktion auf die passive Haltung der verantwortlichen Staaten Europas, die auch dann keine Initiative zeigten, als die Operation „Mare Nostrum“ der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Geflüchteten 2014 ersatzlos gestrichen wurde. Der Vorschlag, sichere und legale Routen für die Flucht zu schaffen, konnte sich politisch nicht durchsetzen. In einer großen deutschen liberalen Wochenzeitung wird in der aktuellen Ausgabe ernsthaft eine Diskussion darüber geführt, ob die private Seenotrettung legitim sei:

Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra. (Die Zeit, 12.7.2018)

Immer lauter werden die Stimmen derjenigen, die sich abschotten wollen vor den Menschen, die nach Europa flüchten. Sie sind bereit, dafür auch den Tod der Geflüchteten in Kauf zu nehmen.

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Das alles hat meine Perspektive verändert. Wenn ich demnächst wieder ans Meer fahre, werde ich die Ruhe und Schönheit wiederfinden. Die See wird mir aber die Zuversicht nicht mehr spiegeln können, weil ich sie nicht mehr in mir trage. Der Blick kann niemals wieder so unbeschwert sein wie früher.


Dieser Text ist ein Beitrag zur Blogparade des Deutschen Historischen Museums „Was bedeutet das Meer für mich?“ #DHMMeer im Rahmen der Ausstellung „Europa und das Meer“. 

Disclaimer: Beruflich unterstützen wir in unserer Agentur in unregelmäßigen Abständen pro bono die internationale Seenotrettungsaktion MOAS bei der Pressearbeit in Deutschland. Nachdem Rettungsorganisationen seit Mitte 2017 gezwungen wurden, Geflüchtete zurück nach Libyen zu bringen, hat die Initiative MOAS ihre Such- und Rettungsaktivitäten vom Zentralen Mittelmeer nach Südostasien verlegt. Dort fliehen Tausende der muslimischen Rohingya-Minderheit über den gefährlichen Seeweg von Myanmar nach Bangladesch. (siehe auch Pressemitteilung vom 6. September 2017)