Wieder hat eine Journalistin das Thema „Kinder und Karriere“ angepackt. Und das ist gut so.

Irgendwann im letzten Jahr ist mir die Lust am Diskutieren über Vereinbarkeit abhanden gekommen. Ausgelöst durch zwei Bücher ging es neben der grundsätzlichen Debatte vor allem um die Frage, ob Kinder und Karriere sich nicht grundsätzlich ausschließen. Nach einer Zeit hat es mich angestrengt, dass da viel Klage, viel persönliche Betroffenheit zu hören war, aber aufrichtige Bemühungen, Lösungen zu entwickeln, zu kurz kamen – wie ich fand. „Vorbilder finde ich doof“ sagte Andrea Nahles bezeichnenderweise in einer Runde, in der es um das Buch zweier Väter ging. Sie wollte sich lieber darüber amüsieren, wie sehr sie sich persönlich in den Klagen der beiden ZEIT-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing wiedererkannt hatte.

Neuer Anlauf für das Dauerbrenner-Thema

Nun hat Tina Groll, die ebenfalls bei der ZEIT für das Online-Ressort Karriere zuständig ist, das Dauerbrenner-Thema erneut aufgegriffen und ein Fragezeichen hinter die These über die Vereinbarkeitslüge gesetzt. „Kinder + Karriere = Konflikt? Denkanstöße für eine deutsche Debatte“ heißt ihr neues Buch. Mit diesem Titel und als Frau wird sie es ungleich schwerer haben als ihre beiden männlichen Kollegen, in der breiten Öffentlichkeit Gehör zu finden – was sehr schade ist und auch ärgerlich.

„Warum noch ein Vereinbarkeitsbuch?“ heißt ihr erstes Kapitel – genau die Frage hat mich neugierig gemacht. Tina Groll geht von einer Prämisse aus, die ich uneingeschränkt teile: Frauen und Männern muss es möglich sein, beides zu leben: Kind und Beruf. Wenn das nicht geht, dann hat nicht der Plan einen Fehler, sondern die Gesellschaft, die ihn unmöglich macht.
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„Ich  schreibe dieses Buch, weil ich mich nicht damit abfinden möchte, dass Erfolg im Beruf und Familienglück gleichzeitig nicht möglich sind.“ (Tina Groll)

 

Zahlen und Fakten zeigen den Fehler im System

Die Autorin hat gefühlt noch mehr Studien und Zahlen recherchiert als ihre Kollegen (sie zitiert das Buch von Britta Sembach und Susanne Garsoffky: „Die Alles-ist-möglich-Lüge“), um zu zeigen, wo diese Fehler im System wirken: Wir sind weit entfernt von einer Geschlechtergerechtigkeit. Frauen verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen, arbeiten als Mütter häufiger in Teilzeit und kommen aus der Nummer schlecht wieder heraus, wenn die Kinder größer sind. Männer, die wollen, haben es bis heute schwer, sich für ihre Kinder zu engagieren und im Beruf zurückzutreten. Viele Unternehmen machen es Eltern unmöglich, Kinder und Karriere zu vereinbaren.

Aber es tut sich was: Immer mehr Arbeitgeber entwickeln familienfreundliche Angebote, die Politik hat neben nach dem Elterngeld nun das Elterngeld plus durchgesetzt, immer mehr Männer wollen ihre Frauen mit Kindern und Haushalt nicht mehr alleine lassen. Das alles untermauern die Zahlen im Buch, das man gut als aktuelles Nachschlagewerk zum Thema empfehlen könnte, wenn dieses ganze Material etwas übersichtlicher als im Fließtext präsentiert würde.

Geht nämlich doch

Viel interessanter und wofür ich das Buch wirklich sehr mag, ist der entschiedene Wille von Tina Groll, etwas zu verändern. Sie belässt es nicht dabei, Missstände zu benennen, sondern zitiert Beispiele aus anderen Ländern, in denen einige Dinge besser klappen. Und sie macht vor allem in den sehr aufschlussreichen Interviews mit Eltern und Experten deutlich, was passieren muss, damit Väter und Mütter zugleich als erfüllte Eltern und beruflich erfolgreich leben können. Das geht nämlich unter bestimmten Umständen doch, wie die konkreten und persönlichen Berichte der Frauen und auch Männer zeigen. Das lesenswerte Interview mit der Burnout-Expertin Karola Kleinschmidt ist auch bei zeit-online erschienen.

Alleine wegen der Gespräche lohnt sich das Buch. Neben Carola Kleinschmidt, die berichtet, warum beim zweiten Kind in puncto Vereinbarkeit wirklich alles besser lief, schildert zum Beispiel die Rechtsanwältin Nina Diercks, wie sie es gemeinsam mit ihrem Mann schafft, Kindern und Beruf in ihrem gemeinsamen Leben einen gleichwertigen Platz einzuräumen. Stark beeindruckt hat mich die Geschichte der Journalistin Mareice Kaiser, deren erstes Kind seit der Geburt mehrfach behindert war und die auch dann wieder gearbeitet hat, als noch ein zweites Kind kam – entgegen aller Widerstände.

In den Interviews wird deutlich, unter welchen Umständen es Frauen und Männern heute gelingt, Familie und Beruf nach eigenen Vorstellungen zu vereinbaren. Sehr individuelle Faktoren spielen da eine Rolle, ein wichtiger davon ist der finanzielle Hintergrund der Paare. Tina Groll betont, dass die Debatte über Vereinbarkeit eher eine Mittelschichtsdebatte sei und umfassender geführt werden müsste – was ihr allerdings selbst auf 255 Seiten auch noch nicht wirklich gelingt.

Sich engagieren statt zu lamentieren

„Doch die Klage darüber löst das Problem nicht. Es scheint, als warte jeder darauf, dass eine höhere Instanz daherkommt und Arbeit oder Aufgaben an einer Stelle wegnimmt.“ (Tina Groll)

Tina Groll hat eine Vision – und auch recht konkrete Vorstellungen, wie die zu verwirklichen ist. Sie schlägt vor, sich wieder auf die Idee der Gewerkschaften zurückzubesinnen, eine Arbeitnehmervertretung zu gründen oder zu unterstützen, die sich für familienfreundliche Angebote einsetzt. Sie erinnert an die erfolgreichen Kampagnen der Vergangenheit, zum Beispiel die für die 5-Tage Woche: „Samstags gehört Vati mir“. Sie appelliert an den Gemeinschaftssinn, weil das Thema Vereinbarkeit nicht nur ein Thema für Eltern sei , sondern eines, für das sich die Gesellschaft stark machen sollte – im eigenen Interesse auch diejenigen, die keine Kinder haben. Und sie bleibt bei all ihren Ideen und Forderungen angenehm sachlich und macht immer wieder klar, wie ihr persönlicher Standpunkt aussieht.

Mich hat sie mit ihrem Buch durchaus etwas angepiekst. Vielleicht haben auch oder sogar gerade die Eltern, die Beruf und Karriere gut vereinbaren können, Mit-Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ihre Erfahrung kein Ausnahmefall bleibt.

Schön auch, dass Tina Groll am Ende die wortreiche Debatte auf drei Gesetzesmäßigkeiten konzentriert, die sie Männern und Frauen an die Hand gibt und die man bei weiteren Diskussionen sowie auch bei der persönlichen Lebensplanung immer im Hinterkopf behalten sollte. Sie treffen das Thema Vereinbarkeit besser als viele lange Abhandlungen:

  1. „Der Interessensgegensatz von zeitlicher Beanspruchung als Arbeitnehmer und zeitlicher Beanspruchung als Eltern bleibt unlösbar.“
  2. „Wie bei jedem Interessensgegensatz muss die Balance immer wieder neu ausverhandelt werden.“
  3. „Der zentrale, selbst zu beeinflussende Schlüssel für eine Lösung ist die persönliche Partnerwahl. Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nur im Team, in einer gleichberechtigten Partnerschaft zu schaffen.“

Tina Groll: Kinder und Karriere = Konflikt? Denkanstöße für eine deutsche Debatte. Stark Verlagsgesellschaft 2016.

Im Blog der Autorin „die Chefin“ kann man das Gespräch mit der Rechtsanwältin Nina Diercks über ihre Erfahrungen mit einer „gleichberechtigten Doppel-Karriere-Partnerschaft“ nachlesen – der Praxisteil zur zweiten und dritten, oben genannten Gesetzesmäßigkeit.

Ein weiteres Interview aus dem Buch, das Gespräch mit Ralf Wetters, Personalverantwortlicher in einer mittelständischen Unternehmensgruppe, findet sich im WiWo-Blog von Claudia Tödtmann.

Auch im Blog Karrierebibel wird das Buch mit einem Auszug – dem Interview mit Coach und Aktivist Volker Bausch – vorgestellt.