Bei einer Tagung Anfang November mit dem schönen Namen „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“ ging es erfreulicherweise viel um die Leserinnen und Leser, die Zuschauerinnen, User: das Publikum. Eingeladen hatte Prof. Volker Lilienthal vom Hamburger Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Uni Hamburg, zusammen mit Prof. Stephan Weichert von der Macromedia University und der Hamburg Media School. Durchaus kontrovers wurde die Rolle des Publikums am ersten Tag diskutiert – am zweiten konnte ich leider nicht mehr teilnehmen. Weiterbeschäftigt haben mich folgende Gedanken:

  1. Warum geht es bei Diskussionen um die Rolle des Publikums in letzter Zeit nach mindestens fünf Minuten fast ausschließlich um Hatespeech?
  2. Warum wird die Einbindung des Publikums in den Produktionsprozess so oft vom Status Quo und so selten von den Potenzialen her diskutiert?
  3. Welches journalistische Selbstverständnis steht eigentlich dahinter, wenn in der Branche Leserkommentare auch als „Schleppscheiße“ bezeichnet werden?

Kommentare – die Pest im digitalen Journalismus

Zum Ersten: Ohne Frage bedeutet es für Redaktionen eine große Herausforderung, mit der Fülle und dem immer wieder abgründigen Stil der Kommentare umzugehen – es reicht, mal reinzusehen, um sich das vor Augen zu führen. Es geht nicht nur um personelle Ressourcen, die investiert werden müssen, um das Schlimmste herauszunehmen und Menschen zu schützen, die in ihrer Würde verletzt werden. Es geht auch darum, welche Auswirkungen diese Art von Kommentaren auf die Rezeption der journalistischen Beiträge haben. Dazu berichtete der Kommunikationswissenschaftler Marco Dohle bei der Tagung aus seiner Forschung:

Die sichtbare Publikumsbeteiligung beeinflusse die Wahrnehmung der Leistungen des digitalen Journalismus – und zwar negativ, wenn die Kommentare negativ ausfallen.

Da wundert es nicht, dass der Wunsch in immer mehr Redaktionen wächst, sich vom lästigen Übel zu befreien, die Kommentarfunktionen ein für alle Male zu sperren. Es gab in den letzten Monaten immer wieder Meldungen von Medien, die darin einen Ausweg aus der Misere gesehen haben.

Umgekehrt, und das wurde in den Diskussionen viel weniger aufgegriffen, gilt aber genauso: Positive Kommentare beeinflussen die Rezeption positiv.

Lieblose Einbindung des Publikums

Beide Forschungsergebnisse beziehen sich auf die Standardvariante der Publikumsbeteiligung: Ich stelle meinen Beitrag ins Netz, öffne die Kommentarspalten und warte ab, was so kommt. Jede und jeder darf seinen Meinung dazu kundtun, so lange, wann und wie viel er möchte, unabhängig davon, ob sie oder er den Text überhaupt gelesen hat. Eigentlich ist das doch eine sehr lieb- und einfallslose Variante der Publikumsbeteiligung. Kein Wunder also, dass sich niemand so richtig gerne in den Kommentaren aufhält, am wenigsten die Journalisten selbst. Aber diese Lieblosigkeit ist auch Ausdruck einer Haltung, die in vielen Redaktionen bis heute offenbar gängig ist: Das Publikum nervt. Das, was es zu sagen hat, bedeutet vor allem eines: weiteren Aufwand. Die Wissenschaftlerin Wiebke Loosen sprach bezeichnenderweise von „Anschlusskommunikation“, schnell kommt die Frage auf, ob das alles nicht auf die Qualität gehe:

Experimente im Dialog mit den Leserinnen

Dabei könnte es sich lohnen, sich andere Formen der Einbindung des Publikums anzusehen. Leider nur kurz erwähnt hat Dirk von Gehlen, Leiter Social Media/Innovation Süddeutsche Zeitung, sein Projekt „Lesesalon“: 100 Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung haben in einem abgesteckten Zeitraum gemeinsam ein Buch gelesen, aus den Diskussionen darüber entstand eine gemeinsame Rezension, die wiederum in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Hier mündet die produktive Rezeption tatsächlich in einem neuen Beitrag. Natürlich ist dieses Experiment vom Aufwand her ungleich höher, als der, den eine Journalistin oder ein Journalist in eine Buchbesprechung investiert. Aber es ist ja durchaus vorstellbar, dass sich aus solchen Experimenten auch standardisierte Formate entwickeln mit weniger Aufwand, aber eben auch ganz neuen Rollen von Journalisten und Publikum.

Die Empfänger senden mit, die Sender empfangen

Das, was da passiert, ist dann eben nicht mehr „Anschlusskommunikation“, denn hier ist das Publikum schon in den journalistischen Produktionsprozess einbezogen. Die klassische Rollenverteilung von Sender und Empfänger löst sich auf. Und eigentlich muss man dafür gar nicht mehr auf Experimente schauen – in Zügen ist das ja schon heute journalistische Praxis. Journalisten bedienen sich gerne der Tweets mit Meinungsäußerungen oder lustigen, klugen Kommentaren. Bei Live Events wie auch bei Katastrophen wird Filmmaterial, das Laien mit ihren Smartphones produziert haben, in die Berichte eingebunden. Es ist eben auch eine Folge der Digitalisierung, dass Journalisten heute kaum noch technischen Vorsprung haben gegenüber denen, für die sie produzieren. Ein Lokalsender in der Schweiz hat vor einiger Zeit komplett auf die Produktion mit dem Smartphone umgestellt – das Gerät, das ein Großteil der erwachsenen und jugendlichen Menschen heute regelmäßig bei sich trägt.

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Communities mit Voraussetzungen

Es lohnt sich aber, sich das Experiment Lesesalon noch mal genauer anzusehen, denn hier ist das Konzept gewesen, was sich viele Redaktionen aus Angst vor dem Vorwurf der Zensur (der ja irrigerweise auch kommt) oftmals nicht trauen: Die Verantwortlichen erlaubten sich einen Selektionsprozess, der die Beteiligung von Anfang an in eine gewünschte Richtung lenkte und der gewissen Anforderungen an die so entstandene Community richtete:

  • gleiches Interesse am Thema: Die Menschen einigen sich auf ein gemeinsames Buch
  • Aufwand: Wer mitmacht, hat zuvor das Buch gelesen
  • Beschränkung der Teilnehmer: die Zahl war auf 100 begrenzt
  • Beschränkung der Zeit: es gab einen festen Zeitrahmen für die Lektüre genau wie eine Frist, bis zu der man sich beworben konnte

Mit dem Lesesalon hat Dirk von Gehlen das in die Praxis umgesetzt, worauf er auch bei der Tagung hinwies: Räume zu öffnen für Produzenten und Rezipienten sei die eigentliche neue Aufgabe des Journalismus.

Ein anderer Podiumsteilnehmer, der SPIEGEL-Redakteur Cordt Schnibben, hat die klassischen Muster des Publikumsdialogs ebenfalls aufgebrochen, Leserinnen und Leser des Magazins zu einem Essen eingeladen und damit viel mehr Nähe zugelassen als es sonst üblich ist. Und auch beim Online-Magazin aus Hamburg „mittendrin“ denke man über neue Formate nach, kündigte die Mitgründerin Isabella David an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es gerade im hyperlokalen Journalismus viele Verfechterinnen der Publikumsbeteiligung und oftmals eine grundsätzlich positivere Haltung dazu gibt.

Die beteiligten Journalisten sind jünger und damit der klassischen Rolle von Journalisten vielleicht weniger verhaftet als Menschen mit zwanzig Jahren Berufspraxis (allerdings kein automatischer Zusammenhang). Sie haben oftmals viel weniger Ressourcen als öffentlich-rechtliche Sender oder große Verlage – und gerade deshalb sollte man sich um so genauer ansehen, wie sie arbeiten. Sie binden das Publikum auch deshalb ein, weil sie auf Hinweise und Mitarbeit angewiesen sind. Und weil Mitarbeit, Mitdenken und Feedback hier als erstrebenswert im Sinne eines aufgeklärten Publikums gesehen werden.

Verhandlung des journalistischen Selbstverständnisses

Vermutlich ist das, was über die Haltung zum Publikum gerade verhandelt wird, eigentlich ein Ringen um ein neues journalistisches Selbstverständnis. Natürlich stellt sich die Arbeit durch die im Zuge der Digitalisierung veränderten Produktionsbedingungen ganz anders dar. Davon ist viel zu hören. Aber der Wandel hat eben auch damit zu tun, dass die Leserin, der Leser von heute nicht mehr zu vergleichen mit den Autoren der Leserbriefe, über die sich Journalisten so gerne erhoben haben: Wer sich damit beschäftigt habe, habe früher als „Weichei“ gegolten, erinnert sich Cordt Schnibben in seinem Vortrag auf der Tagung. Das Publikum von heute ist aber nicht mehr darauf angewiesen, dass eine Redaktion sich mit seiner Meinung beschäftigt oder sie gar veröffentlicht. Es kommentiert, meint, schreibt und veröffentlicht ungefragt einfach selbst: in den sozialen Netzwerken, in eigenen Blogs oder in selbst produzierten Online-Magazinen. Der Dialog findet also längst statt und klugen Redaktionen gelingt es, davon zu profitieren.

„Die Leser sind schlauer als wir“ – sagte Cordt Schnibben. Das stimmt, denn das Publikum sind viele: Expertinnen, denkende, erfahrene Menschen. Man muss keine großer Anhängerin der Schwarmintellingenz sein, um sich vorstellen zu können, dass es viel bringt, sich einem Thema in der Diskussion mit Menschen zu nähern, die in der Lage sind, verschiedenes Hintergrundwissen, neue Perspektiven und vielleicht einfach auch gute Fragen einzubringen.

Und es ist unserer Zeit angemessen, in der Journalisten neben dem technischen Vorsprung auch ihren Wissensvorsprung an vielen Stellen nicht mehr halten können. Der Zugang zu Informationen ist nicht mehr exklusiv den Medien vorbehalten, wenn beispielsweise Politiker/innen ihre Ansichten oder aktuelle Beschlüsse als erstes auf Twitter heraushauen, wenn Entscheidungsprozesse der Behörden der Transparenzpflicht unterliegen und einem breiten Publikum zugänglich sind.

Unter diesen Voraussetzungen erscheint es mir sehr sinnvoll, Journalisten eher als moderierende Verteiler von Informationen zu sehen, die aber durchaus weiterhin eine wichtige Funktion haben: Sie wählen aus, sie bringen Menschen zusammen,  prüfen Informationen auf ihre Qualität, sie bringen sie in einen Kontext – sie kuratieren Informationen.

Wissensvermittlung im allgemeinen Wandel

Journalisten sind übrigens nicht die einzigen, die hier gerade vom Thron der Allwissenheit fallen. Fast die gleiche Diskussion kann man in der Bildung verfolgen, wo die Rolle der Lehrkraft in digitalen Lernumgebungen neu definiert wird und fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer sich längst als Moderatoren begreifen. In der Wissenschaft gibt es ähnliche Auseinandersetzungen wie im Journalismus, wenn über Sinn und Zweck von Wissenschaftskommunikation mit einem breiten Publikum debattiert wird. Auch hier gehen die Meinungen weit darüber auseinander, ob die breite Masse einzubeziehen ist, im Sinne einer Citizen Science sogar eine Bereicherung darstellt, oder aber vielleicht doch nur stört und Wissenschaftlerinnen von ihrer eigentlichen Arbeit abhält.

In allen Bereichen fällt es vermutlich auch deshalb schwer, sich mit veränderten Rollen abzufinden, weil in der Ausbildung noch viel zu wenig darauf eingegangen wird – sei es bei Journalisten, Lehrern oder Wissenschaftlern. Dabei könnte die Rolle der Moderation von Wissenden doch auch sehr reizvoll sein und mindestens genauso herausforderungsvoll.

Bei der Tagung selbst gab es übrigens eine glaubhafte Wertschätzung des Publikums, und die Fragerunden zu den Podien waren bereichernd – eine interessierte Community eben.

Und nicht zuletzt war es auch eine produktive Community: Neben einem Beitrag im NDR-Medienmagazin ZAPP hat sich auch Dirk Hansen in seinem Blog Gedanken gemacht, mit ganz anderen Ideen zum Publikum als meine – sehr lesenswert.

Und wer sich für das Thema interessiert, ist sicherlich auch am Forschungsprojekt des Hans-Bredow-Instituts zum Thema interessiert: Die Wiederentdeckung des Publikums.