Ein Experiment: anlässlich der Social Media Week Hamburg habe ich das erste Mal an einem tweet-up rund um ein Theaterstück teilgenommen: Menschen treffen sich (meet-up) zu einem Live-Event und twittern (tweet), wie sie es erleben, was sie wahrnehmen und was sie darüber denken. Das Twittern von Fachveranstaltungen, Kongressen oder Diskussionsrunden ist mittlerweile schon gang und gäbe – während einer Theateraufführung zu twittern gilt dagegen noch als unkonventionell. Die spannende Frage, mit der ich in den Abend ging:  Würde es eher eine Einschränkung oder eine Bereicherung für mich bedeuten, während der Aufführung tweets abzusetzen und meine Aufmerksamkeit auf Bühne und Schirm zu verteilen?

Noch Neuland: Twittern aus dem Theater

Für das Thalia-Theater in der Gaußstraße war es genau wie für uns Zuschauerinnen und Zuschauer ein Experiment.

„Und wir fragen: Was passiert, wenn eben auch das Publikum „alles darf“ – nämlich während der Vorstellung online sein und twittern? Seconds Screens sind im Theater eher die Ausnahme.“ (Programmheft)

Schon im Vorfeld gab es einige tweets. Alle waren gespannt, kamen offensichtlich auch mit gewissen Erwartungen:

Als Stück hatte man sich „Republik des Glücks“ ausgesucht – eine bewusste Auswahl, wie im Nachgespräch mit den Schauspielern und der Dramaturgin klar wurde. Denn in der „Republik des Glücks“ geht es auch darum, inwieweit neue Medien und neue Kommunikationstechnologien zu der zur Schau gestellten Beziehungslosigkeit beitragen. Ein „Unterhaltungsabend in drei Teilen“ hat der britische Dramatiker Martin Crimp seine gesellschaftliche Analyse genannt, in der er die verzweifelte Suche nach Beziehung,  Selbstverwirklichung und Glück als absurde Revueshow vorführt.

Assoziationen, Gedanken, Gespräche

Um es vorwegzunehmen: Mit fortschreitendem Abend hat mich das Experiment mehr gepackt und zum Teil auch überzeugt. Interessanterweise ging es mir mit dem Stück genauso.

Der erste Teil zeigt ein Familientreffen zu Weihnachten, das sich schnell als Abbild der Beziehungslosigkeit bürgerlicher Existenzen offenbart. Das erschien mir erst einmal abgegriffen – ein Eindruck, den ich gleich zu Anfang des Stücks aber nicht auf Twitter loswerden wollte. Erst einmal abwarten, was noch kommen würde.

Der zweite Teil wurde dann assoziativer, wilder. „Jetzt machen sie auf Pollesch“ wollte ich twittern – und konnte lesen, dass der Mann an meiner Seite einen ganz ähnlichen Gedanken bereits geäußert hatte:

Nun folgte ein ganzer Strauß an Vorgaben für freie Assoziationen, entsprechend fiel es mir leichter,  über Twitter zu äußern, welche Gedanken mir zu dem Stück kamen. Zum Teil habe ich auch nachverfolgt, was die anderen twitterten. Zwei Reihen vor mir war ein Zuschauer sichtlich begeistert vom Stück, applaudierte, lachte laut. In der Timeline war er schnell zu identifizieren. Sein Enthusiasmus war großartig und riss mich ein wenig mit:

Ich war mir sicher, dass es nicht so war, aber dieser @leolazar hätte durchaus Teil der geplanten Aufführung sein können. Durch diese Vermutung entspann sich die für mich erste direkte Konversation mit einem anderen Zuschauer:

Im dritten Teil fiel es mir deutlich schwerer, meine Aufmerksamkeit gleichermaßen auf Stück und Timeline zu richten. Das hatte auch damit zu tun, dass der Dialog hier Fragen aufwarf, dass die Abschlussszene die ganze Aufmerksamkeit gefordert hätte. An dieser Stelle hätte ich unter normalen Umständen vermutlich aufgehört zu twittern, um nur noch dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Doch das Experiment mitzumachen hieß für mich auch, es bis zum Ende durchzuziehen.

Geprägt durch diese Erfahrung im dritten Teil fiel mein erstes Fazit erst einmal klar gegen den Second Screen im Theater aus.

Twittern schärft die Aufmerksamkeit

Dann aber folgte das Nachgespräch. Im Austausch mit anderen Zuschauerinnen und Zuschauern, mit Schauspielern, der Dramaturgin und dem Social-Media-Verantwortlichem wurde mir deutlich, wie reichhaltig die Eindrücke waren, die dieser Abend gebracht hatte. Ich habe sicher einiges nicht mitbekommen von dem, was da auf der Bühne passiert ist, weil das Multitasking eben auch seine Grenzen hat. Dafür aber hatte das, was ich gesehen, gehört und verarbeitet habe, eine ganz andere Intensität. Mit dem Prozess des Schreibens, mit der geforderten Verdichtung der Eindrücke auf weniger als 140 Zeichen, verliefen Wahrnehmung und Reflektion nahezu parallel. Das hat meine Aufmerksamkeit sehr geschärft. Zumal ich mehr wollte, als nur Zitate von der Bühne wiederzugeben. Ich vermute, dass mir an einem normalen Theaterabend bei diesem Stück auch ohne Twittern einiges entgangen wäre. Ich hätte mich nach einem anstrengenden Tag zurückgelehnt, wäre vermutlich mal an einigen Stellen gedanklich ausgestiegen. Das ist mir an diesem Abend twitternd kein einziges Mal passiert.

Theater sollte mit Kommunikation experimentieren

Ich habe das begleitende Twittern als neue Erfahrung der Rezeption eines Stückes erlebt, auch wenn längst nicht alle Möglichkeiten ausgespielt worden sind. Ich finde es gut und wichtig, dass Theater als Ort der Kommunikation sich nicht nur reflektiert mit neuen Formen auseinandersetzt, sondern diese auch selbst anwendet und damit spielt.

Wer alle tweets nachlesen will, sieht sich am besten das storify von nachtkritik.de an. Insgesamt wurden 399 Tweets zu #republikdesglücks abgesetzt. Eine Auswertung mit gleichzeitiger Archivierung gibt es bei tweetarchivist.com

Meine Fazit vom tweet-up im Theater zusammengefasst:

  1. tweet-up im Theater kann funktionieren, ist aber kein Selbstgänger. Es bedarf vermutlich einer Inszenierung und vielleicht auch einer gewissen Steuerung. Die Integration der tweets in das Stück, die Einbeziehung der Schauspieler, tweets, die bewusst von der Regie eingespielt wären – all das sind Erweiterungen, die ich mir als Experiment gut vorstellen kann.
  2. Die Aufmerksamkeit, die das Twittern von der Bühne wegzieht, wird ausgeglichen durch eine höhere Intensität der Rezeption. Twittern aktiviert das Publikum, die Konsumenten werden zu Prosumenten.
  3. Die Tweets bringen eine neue Dimension in eine Aufführung – sie können, projiziert als Twitterwall, als „stream of consciousness“ des Publikums, wie es einer der Schauspieler ausdrückte,  eine weitere  Ebene einziehen.
  4. Ein Stück, das man twitternd begleitet, sollte man sich am besten ein zweites Mal  ansehen – dann ohne zu twittern.
  5. Das Ergebnis des tweet-up als Liste einzelner tweets hat vermutlich am meisten Wert für die, die dabei waren. Für Außenstehende ist es wohl eher verwirrend, zusammenhanglos, vielleicht auch banal, die tweets zu lesen. Im besten Fall macht es neugierig.
  6. Es gibt Stücke, sie sich mehr oder weniger für ein tweet-up eigenen. Bei denen, die dafür in Frage kommen, könnte ein tweet-up die Auführung erweitern und bereichern.

Liebes Thalia-Theater, experimentiert bitte weiter, ob nun mit  tweet-up oder auch anderen Formen der Zuschauerbeteiligung. Ich bin auf jeden Fall dabei.

Nachtrag 12. März

Ich habe Punkt vier meines Fazits befolgt und mir heute Abend „Republik des Glücks“ im Thalia Theater in der Gaußstraße noch einmal angesehen – diesmal ohne zu twittern. Da ich ohnehin viel zu selten Zeit für Theaterabende finde, passiert es so gut wie nie, dass ich zweimal in dasselbe Stück gehe. Diesmal gehörte es zum Experiment. Das Ergebnis lässt sich schnell beschreiben: Ich war überrascht, offensichtlich gar nicht so viel verpasst zu haben – anders als ich vermutet hatte. Und es waren vor allem Details, Requisiten oder einzelne Begriffe, die ich erst jetzt, beim zweiten Mal, entdeckt habe. Dafür habe ich vermisst, was für mich die erste Aufführung zu einem besonderen Erlebnis gemacht hat: das Gefühl, mit den anderen im Publikum verbunden zu sein, an einem besonderen Ereignis teilzunehmen. Es ist das, was Dirk von Gehlen in seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar“ den „unkopierbaren Moment“ nennt. Ich war, insbesondere im letzten Teil, heute Abend an einigen Stellen näher bei den Schauspielern, habe ihre Mimik intensiver verfolgt. Dafür fand ich es sehr schade, so wenig von den anderen im Publikum mitzubekommen.

Neben mir saß eine etwas ältere Frau, von der ich gerne gewusst hätte, wie ihr das Stück gefallen hat. Sie wirkte zeitweilig  sehr amüsiert, bei einigen Szenen mit dem F-Wort meinte ich ihr eine leichte Empörung anzumerken. Ich hätte sie einfach fragen können, als wir zusammen herausgingen. Aber es entsprach nicht meiner Stimmung an diesem Abend.