Thomas Vinterberg hat 1998 einen ergreifenden Film über Missbrauch und Verdrängung gemacht. „Das Fest“ hat sich bei mir eingebrannt. Nun, 15 Jahre später, spielt das Thema Kindesmissbrauch wieder eine Rolle in seinem neuen Film „Die Jagd“. Harald Jähner spricht in der Frankfurter Rundschau von der „spiegelverkehrten Ergänzung zu seinem berühmten Debüt“. Aber kann man diesen Film so sehen?
Mads Mikkelsen spielt in dem Film „Die Jagd“ einen Lehrer namens Lucas, der beschuldigt wird, sich gegenüber einem Kind entblößt zu haben. Lucas kann sich die Vorwürfe nicht erklären und hofft darauf, dass die Angelegenheit schnell vergessen wird. Doch die Bewohner der Gegend beginnen eine Hetzjagd auf den Lehrer, um Selbstjustiz zu üben. (www.filmstarts.de)
Ja, es stimmt, Vinterberg hat zwei Filme zum Thema Missbrauch gemacht, und in seinem neuesten nimmt er quasi die entgegengesetzte Perspektive des zu Unrecht Verdächtigten ein. Ein Erzieher in einer Kita wird von einem Mädchen, der Tochter seines besten Freundes, beschuldigt. Aber: Das macht diesen Film nicht zum Gegenstück. Denn Missbrauch ist in „Die Jagd“ nur Aufhänger für sein zentrales Thema, das ein anderes ist. Es geht um die Verfolgungsjagd gegen einen Unschuldigen, die archaische Züge annimmt. Ohne Anklage, ohne Verteidigung wird ein Freund zum Ausgestoßenen, zum Gehetzten. Von einem Tag auf den anderen werden bis auf Sohn und Bruder alle zu Verfolgern, die den Beschuldigten brutal aus ihrer Gemeinschaft ausschließen. Der Gehetzte versucht, seine Würde zu wahren, sich gegen die Anfeindungen zu behaupten, er will an dieser Geschichte nicht kaputt gehen. In einer Schlüsselszene bei der Weihnachtsmesse bricht er zusammen. Das führt zum Umschwung, sein bester Freund erkennt, dass die Anschuldigungen haltlos waren. Versöhnung, ein Jahr später ist alles wie früher, die Männer des Dorfes gehen gemeinsam auf die Jagd. Doch was kurz als unfassbares Happy-End erscheint, funktioniert nicht. Die Jagd hat ihre Spuren hinterlassen. Lukas wird ein Opfer bleiben. Das alles spielt Mads Mikkelsen atemberaubend, in einem spannend inszenierten Film, der Züge eines Psychothrillers trägt.
Nun wird der Film unter dem Thema Missbrauch diskutiert und auch so beworben. Vinterberg sagt, ihm sei es darum gegangen, die überspannte Angst um unsere Kinder und ihre Auswüchse zu thematisieren: „Es gibt diese romantische Viktimisierung von Kindern, die eine Überbehütung zur Folge hat.“ Ich finde den Bezug auf „Helikopter-Eltern“ hier absolut unpassend. Da werden zwei Themen gemischt, die nichts miteinander zu tun haben. Überbehütende Eltern wollen Kinder vor Erlebnissen schützen, die keine Gefahren sind, sondern Erfahrungen, die zum Leben eines Kindes dazugehören. Missbrauch ist eine Erfahrung, vor der jedes Kind geschützt werden muss. Ja, es gibt sicher Männer, die zu Unrecht des Missbrauchs von Kindern bezichtigt werden. Vinterberg stützt sich auf Fälle, die ihm aus Norwegen bekannt wurden. Aber in welchem Verhältnis steht das zu den vielen Fällen, in denen Jungen und Mädchen Opfer sexuellen Missbrauchs werden?
Man muss schon sehr genau hinsehen, wie denn die „Lüge“ des Kindes hier inszeniert wird. Es sind die Erwachsenen, unterstützt durch einen Psychologen, die aus einzelnen Bildern im Kopf eines kleinen fünfjährigen Mädchens die vermeintliche Missbrauchsgeschichte basteln. Da kommt kein Zweifel mehr auf. Bis auf den Bruder und Sohn des Verdächtigten fragt niemand, was denn wäre, wenn der Verdacht zu Unrecht auf Lukas liegt. Das ist unrealistisch und eindimensional.
Es ist problematisch, dass gerade Vinterberg den Missbrauch als Aufhänger nutzt, um seine eigentliche Geschichte zu erzählen. Denn er wird diesem schwergewichtigen Thema in dieser Konstellation nicht mehr gerecht, verkürzt, geht in Schubladen, dreht sich die Geschichte so, wie sie passen muss. Dem Kind wird hier mehr geglaubt, als es sagt. Unsere Realität zeigt ein anderes Bild: Kindern, die über sexuellen Missbrauch sprechen, lösen oftmals Zweifel aus, viele müssen sich an mehrere Stellen wenden, bevor sie Gehör finden. Daneben enthält der Film viele weitere Ungereimtheiten, die zeigen, dass es nicht um die realistische Darstellung geht. Das ist natürlich nicht zwangsläufig das Kriterium für einen guten Film – aber hier führt es dazu, dass man Vinterberg in seinem gesellschaftlichen Anliegen nicht mehr richtig folgen kann.
Vinterberg scheint das Thema Missbrauch gewählt zu haben, weil es die gemeinsame Wut, den Hass der Menschen im Dorf am besten auf einen Nenner bringen kann. In einer Art instrumentalisiert er den Missbrauch für seinen Plot. Das mag mit anderen Themen funktionieren und in einem Kunstfilm durchaus legitim sein. Bei diesem Thema finde ich es sehr bedenklich.