: Nach dem Ende eines Monats schreibe ich auf, was mich in den vergangenen Wochen beschäftigt hat, was ich gelesen und gehört habe und weiterempfehlen möchte, woran ich arbeite und was ich bemerkenswert gefunden habe.

Wie gut kann ich Entscheidungen treffen? Darüber habe ich in den letzten Wochen nachgedacht, in einer Art Rückschau: In den vergangenen beiden Jahren stand ich jeweils im April vor bedeutsamen, schweren Entscheidungen. 

In kleineren Dingen entscheide ich meistens schnell und gerne. Geht es um grundsätzlichere, lebensverändernde Fragen, erscheint mir der ganze Prozess komplexer. Dem „ja oder nein“, „aufhören oder weitermachen“ ist meistens eine Phase vorausgegangen, die vermutlich gar nicht so bewusst abläuft. Erst im Nachhinein sehe ich, dass eine Entscheidung schon viel früher begonnen hatte, als es mir zugänglich war. Nachdem ich in einem Text von der Kulturphilosophin Alice Lagaay dazu sehr interessante Gedanken gefunden habe, finde ich diese Phase mindestens so interessant wie ihr Ergebnis.

Die Pause vor der Entscheidung

„Lob des Zauderns“ hat Alice Lagaay ihren Beitrag genannt und erst beim Lesen fiel mir ein, dass ich vor längerer Zeit, in meiner ersten Monatsnotiz hier im Blog, schon einmal über ein Deutschlandfunk-Gespräch mit Alice Lagaay geschrieben hatte, in dem es um die Pause ging. Das passt sehr gut zu meinem aktuellen Thema. Denn wenn sie rät, für Entscheidungen den Raum des Zögerns zu lassen, „den unreflektierten Fluss gewohnheitsmäßigen Handelns zu unterbrechen, das System zu stören“, dann ist das auch eine Form von Pause, die der Entscheidung vorausgeht. 

Lagaay beschreibt den Prozess vor der Entscheidung als den einer „produktiven Wachsamkeit“. Ich glaube, dass man viel über sich selbst erfährt, wenn es gelingt, sich hier selbst zuzuhören. Denn in der Phase der Entscheidung begegnen sich – zumindest bei den Lebensentscheidungen – verschiedene Anteile der eigenen Identität, Werte, Überzeugungen. Auch Lagaay rät, ihnen zuzuhören:

Was wäre, wenn …? Genau hier liegt die Keimzelle für eine ausgewogenere und besonnenere, weniger hektische und neurotische Daseinsform. Für ein Sein, das rhythmisch auf die Stimme des anderen tief in uns eingestimmt ist; ein Sein, das ein Ohr hat für die unendlichen Möglichkeiten der Offenheit. Ein Sein, das sich ausweitet in einem Raum, der uns genügend Zeit lässt für Entscheidungen, die dann vom Baum fallen wie ein reifer Apfel. (Alice Lagaay, Philosophie Magazin Februar/März 2019)

Alle Zukunft ist ungewiss

Schwierig ist es, Entscheidungen zu treffen durch den Versuch, die Folgen möglichst genau auszumalen, vorauszusehen, was geschehen wird, wenn ich diesen oder jenen Weg einschlage. Das schafft nur eine Scheinsicherheit, denn: „Die Zukunft ist und bleibt ungewiß“, wie es Niklas Luhmann formuliert (in einem Text über „Entscheidungen in der ‚Informationsgesellschaft‘“, den ich mir zur Lektüre zunächst zurückgelegt habe, nur Luhmann-Fans werden ihn auf Anhieb verstehen).

Zur Entscheidung gehört der Mut, sie zu treffen, ohne genau vorhersehen zu können, wie man im Nachhinein damit leben wird. 

Hilfreich ist es, sich an zurückliegende gute Entscheidungen zu erinnern und auf eigene Stärken zu besinnen. Das stärkt den inneren Kompass. So hat es die Schriftstellerin Mariana Leky einmal in einem Gespräch formuliert.

„Für mich ist aber, was Entscheidungen angeht, mein eigenes Wertesystem viel grundsätzlicher. So ein System aus Werten ist wie ein Geländer“. Marina Leky im Gespräch mit Philipp Hübl, Philosophie Magazin Januar 2019

Ein schöner Satz, wie ich finde, und ein guter Anlass, sich immer wieder der eigenen Werte bewusst zu werden. 

Der Sprung ins kalte Wasser

So heißt ein neuer Podcast, der direkt an das Thema Entscheidung anschließt, weil er genau diese Phase auszuleuchten versucht, in dem wir an einer Weggabelung unseres Lebens entscheiden, ohne genau zu wissen, was daraus folgen wird. Die Soziologin und ehemalige Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Jutta Allmendinger, und die ehemalige Linken-Chefin Katja Kipping unterhalten sich in den Folgen mit Menschen, die in ihrem Leben richtungsweisende Entscheidungen getroffen haben. 

Die beiden Frauen waren sich begegnet, als sie beide jeweils vor beruflichen Wendepunkten gestanden hatten. Jutta Allmendinger hat inzwischen das offizielle Rentenalter erreicht und ist in den Unruhestand übergetreten, bei Katja Kipping hatte die Wahlentscheidung der Berliner:innen im vorvergangenen Jahr ihr Aus als Berliner Sozialsenatorin zur Folge gehabt. 

Ihre Gäst:innen treffen sie genau in dieser Situation, in der eine Entscheidung für das Ungewisse ansteht: Georgine Keller, Journalistin, die sich erst kurz vor ihrer Rente entschlossen hatte, sich in ihrer wahren Identität zu zeigen. Ihr gesamtes Berufsleben war sie bis dahin der WDR-Redaktionsleiter Georg gewesen. Auch bei ihr zeigt sich, dass dem Sprung eine Phase des Anlaufs vorangegangen war, sie habe die „Füße ins Wasser getaucht“, wie Allmendinger es zuhörend beschreibt.

In einer weiteren Folge sprechen die beiden mit Hannah Kleeberg, die ihr Studium abgebrochen hatte, um sich mit „Herrlich Dining“ selbstständig zu machen – und jetzt statt über politische Theorien über ausgefallene Kreationen für Caterings nachdenkt. 

Ich war sehr gespannt auf diesen Podcast und hoffe nun, nach den ersten drei Folgen, die ich gehört habe, dass in den kommenden Episoden etwas mehr Zeit bleiben wird, über genau diese Phase vor dem Absprung zu sprechen. Ich würde gerne mehr erfahren über die Gedanken, Zweifel, Überlegungen in eben dieser meist kurzen Zeit. Sie ist wohl eine der interessantesten überhaupt, siehe oben, vor allem, wenn wir sie im Rückblick mit dem nachträglichen Erleben der Folgen dieses Moments abgleichen können.

Revival der Blogs?

Im April habe ich relativ spontan ein Experiment gestartet und hier im Blog auch darüber berichtet: Ich habe mit ChatGPT über meine Monatsnotiz Februar/März gesprochen und dieses Gespräch sowie den ursprünglichen Text als Audiodateien angeboten.

Die Idee war bei einem Treffen der Bloggereventreihe „Blogtastisch“ entstanden, bei dem Daniel Fiene ein ähnliches Experiment vorgestellt hatte. Mich hat es sehr angesprochen, weil die Vertonung und das Gespräch den Texten im Blog eine weitere, persönliche Dimension verleihen. Allerdings würde ich das eher nicht mit einer KI fortsetzen wollen – nicht nur wegen des zeitlichen Aufwands.

Die schleimende KI

Maximilian Buddenbohn schreibt in seinem Blog als Reaktion auf das Experiment, in dem ich auch kurz über die Reaktionen von ChatGPT berichtet hatte, einen schönen Rant auf das „Heranwanzen an die User“:

Dieses fürchterliche Herumgeschleime der Software nämlich („Wir bauen hier etwas richtig Schönes!“), die erst einmal die eingegebenen Anforderungen mit Lob garniert, als müsse sie für die richtige Stimmung sorgen, als sei das Betriebsklima im Verhältnis zu den Benutzerinnen zentral in ihrer Zuständigkeit.
Maximilian Buddenbohm

Interessanterweise schien es mehreren so zu gehen – OpenAI hat daraufhin das Update zurückgezogen, User:innen hätten es als „overly flattering or agreeable – often described as sycophantic“ abgelehnt.

Parallel dazu gibt es die Version „Monday“ von ChatGPT, die weniger devot, schlecht gelaunt (ich finde allerdings auch: gewollt lustig) daherkommt. Interessant war die Erfahrung, dass auch diese Version nach einer Weile in den säuselnden Modus zurückfällt. 

Mir ist es fast egal, ob die KI säuselt oder pöbelt – beides macht mir klar, dass ich es mit einer KI zu tun habe. Seltsamer wird es, wenn sie irgendwann so auf mich reagiert, dass ich glauben könnte, mit einer wahren Person zu chatten.

Wir als Menschen hingegen sollten übrigens nicht zu höflich zur KI sein – wie der SWR berichtet, koste das „Hallo“, „Bitte“ und „Danke“ das Unternehmen OpenAI „mehrere Millionen Dollar“ durch die Energie. Das verdeutlicht noch einmal ein ganz anderes Problem, das da auf uns zukommt, denn bekannterweise ist bitte und danke noch das wenigste, was wir da tagtäglich eingeben.

Der menschliche Faktor

Zurück zu den Blogs: Wird es denn nun ein Revival der Blogs geben? Ich halte das für möglich – wenn Blogger:innen sich auf das besinnen, was zu den Ursprüngen zurückführt, wenn wir also persönlich bleiben, ob nun mit Hilfe von KI oder ohne. 

Ein für mich hoch interessantes Gespräch dazu gibt es in dem Podcast „Follow the Rabbit“. Die beiden Hosts, Igor Schwarzmann und Johannes Kleske, hatten Sari Azout eingeladen, die eine spannende These vertritt: Sie glaubt, dass das Kuratieren, die Fähigkeit, Ideen zu sammeln, zu verbinden und zu verfeinern, zur Grundlage einer sinnvollen Co-Creation mit der KI werden kann. Die Fähigkeit, ästhetische und konzeptionelle Entscheidungen zu treffen, bleibe dabei stets das, was den menschlichen Faktor unersetzlich mache. Die Episode heißt entsprechend so schön: “From cynicism to curiosity: How personal taste becomes the ultimate skill in an AI-powered world.” Sari Azout entwickelt darin und in ihrem Text, der der Folge zugrunde liegt, eine Art Versöhnung zwischen den beiden Haltungen zu KI, die sich in den aktuellen Diskussionen scheinbar unvereinbar begegnen: Komplette Technik-Dystopie und -Euphorie. Sie beschreibt, wie und warum sich das Kuratieren als entscheidende Kompetenz für Kreativität und Wissensarbeit behaupten wird. 

Sari Azout führt ein Unternehmen, das die sehr faszinierende Sublime-App entwickelt hat, eine Art persönliches Wissensmanagement-Tool, das kreative Ideen miteinander verbindet. Ich war sofort angesteckt und werde von meinen Erfahrungen damit in den folgenden Monatsnotizen berichten. 

Fünf Jahre nach Corona

Als die ersten Gespräche zum fünften Jahrestag des Beginns der Corona-Pandemie erschienen, hatte ich zunächst wenig Motivation, sie anzuhören, Texte zu dem Thema zu lesen. Obwohl ich es besser weiß, war da ein Gefühl, das Ganze liege hinter mir, habe aktuell mit mir nichts mehr zu tun. 

Das Gespräch „Hatten Sie zu viel Macht, Herr Drosten?“ aus der ZEIT-Podcastreihe „War das was?“ war ein guter Einstieg, um zu erkennen, wie sehr wir eine Aufarbeitung brauchen. Christian Drosten zeigt sich hier erstaunlich verbittert, wie ich finde, auch wenn er am Ende noch mal versucht, eine andere Tonlage einzubringen. Was mich erstaunt hat: Während des gesamten Gesprächs ist wenig von Fehlern zu hören, die vielleicht auch auf seiner Seite gelegen haben könnten. Er bedauert es heute, sich so sehr in die Öffentlichkeit gebracht zu haben, wissend, dass es eine Notwendigkeit dazu gab. Ich finde weiterhin, dass Christian Drosten einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass wir vergleichsweise gut durch diese Pandemie gekommen sind, er hat dafür jede Anerkennung verdient. Ich halte ihn für einen vorbildlichen Übersetzter von Wissenschaft für Menschen, die darin nicht zuhause sind. Vielleicht hat er einfach schon zu viele Angriffe hinter sich und es ist eine Schutzfunktion, nicht über Fehler zu sprechen, die dann am kommenden Tag als fette Headlines zu lesen wären?

Eine weitere Reihe greift das Thema unter dem Aspekt des Risses auf, den die Pandemie und der Umgang damit durch unsere Gesellschaft gezogen hat. „Cut – das Virus, das uns trennt“ist ein fünfteiliges Storytelling-Format des WDR. Es begleitet zwei Geschwister  in ihrem damaligen Konflikt und dem Versuch der nachträglichen Versöhnung. Ich habe wieder einmal bemerkt, dass ich kein Fan des ausgewalzten Audio-Storytellings bin, wenn mir nicht klar ist, wozu ich all diese detaillierten, atmosphärischen Informationen brauche. Inhaltlich finde ich interessant, an dem Einzelfall sehr gut nachvollziehen zu können, dass scheinbar unversöhnliche Konflikte doch zu lösen sind. Es ist ein guter Ansatz, dorthin zurückzugehen, wo es einmal eine gemeinsame Basis gab, von der zwei Menschen oder auch Gruppen dann an irgendeiner Stelle in unterschiedliche Richtungen abgebogen sind. Sich das zu verdeutlichen ist auch eine Strategie für aktuelle Debatten.

„25 Sommer“ und Literaturkritik

Im letzten Jahr hat sich in meinem Leben einiges verändert, und man hatte mir den Roman „25 Sommer“ von Stephan Schäfer, Journalist und Ex-Manager, empfohlen, der zu meiner Situation passen könnte. Rein thematisch mag das nachvollziehbar sein. Als ich aber in das Hörbuch hereingehört und danach die größtenteils sehr positiven Rezensionen gelesen habe, war ich mindestens erstaunt, dass dieses Buch so unkritisch verhandelt wird. Ich schreibe ungern Rants. In seinem Blog „Kommunikatives Lesen“ hat mir das dankenswerterweise Alexander Carmele abgenommen. Das Beste, was ich über „25 Sommer“ sagen kann, ist, dass es mich auf der Suche nach einer Rezension, die diesen Titel nicht feiert, auf sein tolles Blog gestoßen bin. 

25 letzte Sommer gemahnt das alt-humanistische ‚memento mori‘ und ‚carpe diem‘ an, und gleicht so eher einer naiv-ersonnenen, nichtsdestotrotz ernstgemeinten Erlöser- und Heiligengeschichte. Alexander Carmele

Wer unterhaltsame Literaturkritik mag, sollte sich unbedingt den SRF-Literaturclub, die April-Ausgabe, ansehen/anhören. Philipp Tingler ist in der Runde der Kritiker, der immer wieder darauf pocht, die besprochenen Bücher nach ihrer literarischen Qualität zu bewerten, und er mahnt das in dieser Sendung besonders beharrlich an.

Rhabarber

Im April startet die Saison dieses wunderbaren Gemüses (auch wenn es meistens wie Obst verspeist wird, zählt der Rhabarber zu den Gemüsesorten – und hier ist zu lesen, warum). Jeden Tag bis Ende Juni (man empfiehlt den Johannes-Tag, den 24. Juni), steht bei uns nun ein Topf Rhabarber-Kompott in der Küche. Dieser schöne Film über den Anbau im „Rhabarberdreieck“ in West Yorkshire huldigt das Gemüse in angemessener Form, wie ich finde. Hinter dem Film steht ein organisches Parfumprodukt, ich wäre im Leben nicht darauf gekommen. 

Musik

Die Parfüm-Firma hat im letzten Jahr auch noch eine musikalische Ode an den Rhabarber verfasst. Eine ganz andere Variante der Wertschätzung als der legendäre Rhabarber-Tanz von Bodo Wartke aus dem letzten Jahr. Offensichtlich hat das Gemüse euphorisierende Wirkungen, die sich in ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen repräsentieren.

Und dann kam im April noch der erste Song des neuen Pulp-Albums heraus, das im Juni erscheinen wird: 

For those of us who thought there would never be a new Pulp album again, this is pure happiness.

Ich habe den neuen Song zum Anlass genommen, mal wieder „Disco 2000“ zu hören, der Titel, der mich durch den Abschluss meines Studiums gebracht hat. Vor jeder Prüfung habe ich das Stück dreimal gehört damals – und alles ist gut ausgegangen.